Der Umbruch als Memento und Herausforderung
| docx | pdf | html ◆ přednáška, německy, vznik: 25. 6. 1993 ◆ poznámka: Přednáška pro seminář dr. Milana Průchy ve Freie Universität v Berlíně 25. 6. 1993
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  • Přelom jako memento a výzva

  • Der Umbruch als Memento und Herausforderung [1993]

    Berlin, 25. 6. 1993

    Geehrte Damen und Herren, ich fürchte, daß ich zu viel auf der abstrakten Ebene bleiben werde und kaum etwas Neues über die wirkliche politische und gesellschaftliche Lage des östlichen Teils unseres Kontinentes sagen werde. Es wird nur Einiges erwähnt, das mehr zum Nachdenken führen könnte und sollte. Im Voraus bitte ich deswegen um Entschuldigung.

    Das, was sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre im Zentral- und Ost-Europa ereignet hat, bekam schon mehrere verschiedene Namen. Etwas zu benennen heißt immer auch: damit fertig zu sein oder fertig sein zu wollen. Wenn wir eine Wirklichkeit mit ihrem rechten Namen nennen, bedeutet das, daß wir sie also kennen. Und da müssen wir immer auch fragen: kennen wir wirklich jene Wirklichkeit, die wir irgendwie benannt haben? Benennen wir jene Wirklichkeit mit ihrem rechten Namen? Warum sprechen wir heute über den „Umbruch in Osteuropa“? Erstens: warum „Umbruch“? Und zweitens: warum in Osteuropa? Sind es tatsächlich die richtigen Namen? Und auch wenn ja, dann was sagen diese Namen eigentlich aus?

    In den ersten Tagen des relativ späten sog. Umbruchs in Prag waren es besonders die Studenten, die sich am aktivsten auch an der Veränderung der ganzen politischen Atmosphäre beteiligten. Es waren auch gerade sie, die als verantwortlich verstanden werden müssen zwar nicht für die Benennung, sondern für die Wirklichkeit der damals so genannten „sanften“ oder „milden“ Revolution. Heute fühlen fast alle, daß es sich nicht um passende, rechte Namen handelte. Die Ereignisse waren zwar nicht blutig, aber schon damals, und noch mehr heute sieht und fühlt man, wie weit das alles von einer „sanften“ Veränderung entfernt war und besonders später noch ferner geworden ist. Noch viel ernster ist es mit der sog. Revolution. Schon ziemlich bald, nach einigen Wochen, am Ende Dezember und Anfang Januar, haben die Studenten oft über eine „gestohlene Revolution“ gesprochen. Heute sehen wir jedoch immer klarer, daß man über eine Revolution kaum sprechen kann. Alles spricht vielmehr dafür, daß es sich um eine Art Restauration, also keine Revolution handelt. Wieso, daß sich die Wirklichkeit selbst vor unseren Augen so ändert, daß wir andere Namen brauchen, um sie zu benennen? War die Wirklichkeit wesentlich, d.h. schon vom Anfang an so, nur daß wir es nicht gesehen, nicht verstanden haben?

    Gerade hier sind wir meistens mit einem ernst zu nehmenden Vorurteil belastet, nämlich daß das, was in der Vergangenheit passiert ist, ein für allemal so und nicht anders gewesen ist, auch noch heute ist und für Ewigkeit bleiben wird, und daß niemand daran etwas ändern können wird. Das ist nur eine Teilwahrheit und also ein Irrtum. Das, was ist, was geschieht, was sich ereignet, ist immer mehrdeutig, ja vieldeutig. Auch wenn alles schon „ganz“ geendet hat und zur bloßen Vergangenheit wurde, geschieht es in einem wesentlichen Sinne noch weiter, so daß man noch eine lange Zeit nicht klar und eindeutig sagen kann, was eigentlich geschehen ist. Und das nicht nur deswegen, daß wir am Anfang nicht alles Wichtige gewußt hätten, was zu dem Tatbestand des betreffenden Ereignisses gehörte, sondern daß zu jeder geschichtlichen Wirklichkeit, zu jedem geschichtlichen Ereignis auch die weiter dauernde Reaktion der Leute darauf gehört, und diese Reaktion geht viel weiter und tiefer in eine Zukunft hin, für die jenes Ereignis scheinbar schon ganz zu etwas Vergangenem wurde und also ganz in die Vergangenheit überging.

    Das darf freilich nicht so verstanden werden, daß alles sich geschichtlich Ereignende nur ein Schein ist oder mindestens später in der Erinnerung zum bloßen Schein wird, zur bloßen beliebigen Vorstellung ohne jeden Grund. Zu allem geschichtlichen Geschehen gehört immer auch etwas Gegebenes, Sachliches, Tatsächliches, was nur konstatiert werden darf. Die Geschichte besteht jedoch nicht nur aus diesen Tatsachen; alle diese Tatsachen zusammen legen noch keine wirkliche Geschichte dar. Zu dieser Geschichte gehört immer auch, wie die Leute damals das Geschehende und dann das Geschehene verstanden haben und auch später verstehen. Geschichte ohne Verständnis ist noch keine Geschichte, und das gilt sowie für die damaligen Aktivisten des aktuell Geschehenden, als auch für uns alle, die wir volentes nolentes Nachfolger dieser Aktivisten sind, und zwar ob wir es genau Essen oder nicht. Es handelt sich um etwas viel Wesentlicheres als um bloße Deutungen dessen, was eigentlich geschehen ist: die sog. bloßen Deutungen gehen in das geschichtlich Geschehende hinein und sind von dem Geschichtlichen nicht aussonderbar und separierbar. Das sachlich, gegenständlich Gegebene kann nicht von dessen Sinn weggeschnitten werden, weil in der wirklichen Geschichte reagieren die Leute nie nur auf das Gegebene, auf die sog. Tatsachen, sondern auf deren Sinn, deren Bedeutung. Und so ist gerade im wirklichen Gang der Geschichte beides immer unteilbar zusammengewachsen, und das heißt: konkret (dieses Wort kommt von concresco, -ere = zusammenwachsen). Eine Geschichtschreibung, die sich ausschließlich auf sog. Fakten oder Tatsachen begrenzen wollte, wird dadurch zu einer ganz abstrakten Disziplin, weil sie gerade von verschiedensten Formen von Deutung und mehr oder weniger sinnspürender und sinnvoller Geschichtserfahrung abstrahieren.

    Das alles, was hier so allgemein ausgesprochen wurde, gilt offensichtlich auch für die uns gegenwärtige Zeit des immer noch weiter sich entwickelnden oder besser immer fortgehend geschehenden sg. Umbruchs. Es kam zu einer auffallenden und, wie es mindestens immer noch scheint, grundsätzlichen Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Zentral- und Ost-Europa. Wer nur kausal denken will, der kann sich bemühen die Hauptursachen dieses Ergebnisses zu enthüllen. Ohne weiteres kann man zugeben, daß man so Manches wirklich klarer sehen und beschreiben kann, jedoch nur unter Bedingung, daß man dabei auch ein nicht weniger klares Bewußtsein behalten will, daß damit gerade das Geschichtliche aus dem Blick weggeschaltet wird. Denn das Geschichtliche besteht vor allem darin, wie die Leute sowie auf das Nicht-Geschichtliche als auch auf das schon geschehene oder aktuell geschehende Geschichtliche reagieren. Dabei ist natürlich die Reaktion der Zeitgenossen die entscheidende. Man kann zwar später erkennen, wie diese zeitgenössische Reaktion auf falschen Informationen oder auf Irrtümern im deren Verständnis beruhte, aber in dem weiteren Sich-entfalten der geschichtlichen Ereignisse wirken sich diese Irrtümer immer als ein wesentlicher Teil der wirklichen Geschichte aus.

    In diesem Zusammenhang können wir jetzt eine weitere Frage stellen: ist es in den ersten Tagen und Wochen ein Irrtum gewesen, worauf die großen Erwartungen der meisten Leute z.B. in unserem Lande gegründet worden sind? (Wir wissen jedoch, daß es sonst in dieser Hinsicht keine Ausnahme in dem damaligen Block der sog. sozialistischen Länder war.) Oder ist inzwischen etwas passiert, was den ursprünglichen Gang der geschichtlichen Veränderung, wie wir es auch nennen wollen, in eine neue Richtung umgesetzt hat? Und wenn so, wie konnte zu so einer Umwechslung kommen? Wer (oder vielleicht was?) ist hier als der (oder das) Verantwortliche zu erkennen und zu beurteilen? Wie ist es überhaupt mit den Erwartungen der Scharen gewöhnlicher, durchschnittlicher Leute, der sog. Massen, in solchen Umbrüchen und Umwälzungen? Gehören ihre Vorstellungen auch zur Geschichte oder sind sie nur ein vorgeschichtliches oder außergeschichtliches Überbleibsel der mythischen - oder im heutigen

    Europa eher pseudomythischen - Einbildungen? Wie kommt es jedoch, daß heute die Leute in solchen Situationen Hoffnung haben, daß eine Verbesserung, ja sogar Erlösung sich nähert? Warum erwarten sie nicht eher eine Verschlimmerung der Verhältnisse? Wir kennen doch jene alten Vorstellungen des goldenen Zeitalters, mit dem alles angefangen hat, von dem her dann aber alles immer schlechter wird und letztlich untergeht. Wenn wir die hoffnungsvollen Erwartungen der Leute in Situationen solcher Umbrüche beobachten und analysieren, müssen wir sie eigentlich nicht nur als pseudomythisch, sondern als antimythisch verstehen. Die Geschichte hat eben in ihrer eigentlichsten Geschichtlichkeit mit solchen antimythischen Vorstellungen angefangen: mit Hilfe solcher Vorstellungen konnte sie erst erfunden und gegründet werden. Nur dort ereignet sich etwas Geschichtliches, wo Wille und Lust zu neuen Anfängen zur Verfügung stehen. Diese Entdeckung der Möglichkeit neuer Anfänge gehört zu dem ursprünglich außereuropäischen Erbe unserer europäischen Überlieferung und wurde durch die christliche Interpretation einerseits massenhaft vermittelt, andererseits immer auch gebremst, gefesselt oder neutralisiert. Den wirklichen Ursprung dieser pseudomythischen oder besser antimythischen Vorstellungen müssen wir in der prophetischen Tradition des alten Israels suchen. Wir sind uns immer noch zu wenig dessen bewußt, daß es auch so zu sagen eine Geschichte der Geschichte gibt, d.h. daß auch die Geschichte einmal einen Anfang hatte (und vermutlich nicht nur einmal). Über das Ende der Geschichte nachzudenken und zu diskutieren, wie es nach Fukuyamas berühmt gewordenem Text der Fall war und ist, trägt jedoch eine Voraussetzung mit, nämlich daß das Weitergehen der Geschichte und besonders die Geschichtlichkeit deren Geschehens keine Selbstverständlichkeit ist, daß ein beliebiges Geschehen noch nicht ein geschichtliches Geschehen sein muß. Es wurde in der letzten Zeit zur Mode mit kritischem Abstand über das Aufklärerische des Fortschrittsgedankens zu sprechen. Der Gedanke des Fortschrittes, ja des unendlichen Fortschrittes ist jedoch wesentlich älter und wurde wahrscheinlich zuerst von einem der kirchlichen Väter zum Ausdruck gebracht, nämlich von Gregor von Nyssa. Das wirkliche Fundament jedes Fortschrittsgedankens besteht jedoch in der Idee, daß nicht nur äußere Bedingungen und Verhältnisse, sondern besonders die Leute selbst, und an erster Stelle auch gerade wir, besser werden können und besser werden sollen. Damit sind offensichtlich ziemlich viele Probleme verbunden. Aber Probleme sind hier, um erkannt und gelöst, nicht um weggeschafft oder wegeskamotiert zu werden.

    Es scheint, daß wir also erst die Frage stellen müßten, was die Leute eigentlich erwartet haben, welche Vorstellungen sie gehabt haben von den kommenden neuen Zeiten. Aber das wäre ein falscher Weg. Solche Vorstellungen werden der Mehrzahl der Leute immer nur imputiert - von den Politikern, aber noch vorher von den Künstlern, bzw. Schriftstellern, Wissenschaftlern, Philosophen. Geschichte braucht Taten, um weiter geschichtlich zu geschehen. Kein bloßes Anpassen genügt. In diesem Sinne dürfen wir mit Recht über die Demontierung und Dekonstruierung der Sowjet-Union als über eine geschichtliche - ja sogar weltgeschichtliche - Tat sprechen, ob sie schon so von Anfang an programmiert und verstanden wurde oder nicht. Das ganz Neue, nicht Manipulierbare dabei war jedoch eben die Hoffnung, die Erwartung besserer Zukunft. Das gab dem ganzen übergroßen Ereignis eine nicht unterschätzbare Atmosphäre der ersten Tage und der ersten Wochen. Vielleicht war die Atmosphäre gerade bei uns wichtiger als in anderen Ländern des Zentral- und Ost-Europas, weil gerade bei uns die letzten zwei Dekaden so undurchbrechbar monolithisch zu sein schienen. Es gab mehrere einzigartige Aspekte der ganzen Veränderung, über die wir heute als über „Umbruch“ sprechen, die charakteristisch sind und die meines Erachtens immer noch zu wenig ernst genommen und diskutiert worden sind. Die unerträgliche Last des stalinistischen und nachstalinistischen kommunistischen Regimes brachte nach dem Krieg mehrere Protestversuche und auch ziemlich große und geschichtlich wichtige Empörungs- oder Aufstandsbewegungen ins Leben, die man jedoch immer erfolgreich mit den Machtmitteln entgegentreten konnte, weil sie isoliert waren und weil sie durch keine Solidaritätsaktionen und keine Hilfe aus anderen Städten und Ländern unterstützt worden sind. Und da kam es jetzt dazu, daß fast in einer Stunde, innerhalb ein paar Tage dasselbe Bild in vielen, fast in allen diesen Ländern zu sehen war, und zwar ohne daß es sich um eine vorher geplante Aktion handelte. Das kann nicht nur durch die Arbeit der Medien erläutert werden. Es gab etwas wirklich gemeinsames, das die Leute in diesen Ländern gefühlt und erfahren haben. Und das scheint mir nicht nur darin zu stecken, wogegen sie sich gerichtet haben, sondern auch in etwas Positivem. Das Positive sehe ich in ihrer gemäßigten, gar nicht schwärmerischen Offenheit in die Zukunft hin. Und gerade diese Offenheit für die Zukunft und in die Zukunft hin ist immer mehr im Verschwinden. Warum?

    Das, was sich in dem sog. Umbruch ereignete und sich weiter noch ereignet, ist mit dem Aufgehen oder Untergehen großer Zivilisationen der weiten Vergangenheit zu vergleichen. Arnold Toynbee, ein großer Historiker der Weltzivilisationen, hat eine interessante Methode entworfen und auch gerade in diesen wichtigen Momenten deren raschen Aufschwungs oder nicht weniger raschen Untergangs angewendet. Seine für die „wissenschaftlich“ orientierten Historiker wahrscheinlich nicht gut akzeptierbare methodische Frage bei solchen Gelegenheiten war: vor was für einer Herausforderung haben sich die damaligen Leute gestellt gefühlt oder fühlen sollen? Und dazu gehört gleich die zweite Frage: wie haben jene Leute auf diese Herausforderung geantwortet? Das sind seine ganz wichtigen Termini: Herausforderung und Antwort, challenge and response. Es fragt sich, ob wir vielleicht in der Deutung des neulichen (rezenten) Umbruchs im Zentral- und Ost-Europa nicht weiter kommen könnten, wenn wir genau diese Frage hic et nunc vor und für uns selber stellen würden. Wenn wir diese so aktualisierte Frage annehmen, ist es jedoch gleich weiter zu fragen, wer hier eigentlich zu fragen hat. Ohne weiteres sind es in erster Reihe wir, die aus diesem Teil von Europa kommen. Aber sind es wirklich nur wir? Ist es wirklich so angemessen, wenn schon im voraus das eventuelle Ergebnis des Nachforschens, was denn für eine Herausforderung sich hier vor uns - oder vor wen noch - gestellt hat, als nur für die Betroffenen, nur für die Zentral- und Ost-Europäer gültig wäre. Ist wirklich das, was sich ereignet hat, nur auf diesen Teil Europas begrenzt? Dürfen sich alle anderen Europäer frei fühlen und vollkommen unangesprochen von dieser Herausforderung? Das wäre nicht nur naiv, sondern es könnte wirklich selbstbehindernd, ja selbstmörderisch sein oder bald so in der Zukunft werden.

    Ich bin weit davon, hier Ratschläge oder gar Lösungen vorzulegen. Alle Lösungen sind mindestens am Anfang philosophisch verdächtig. Die Philosophie bringt ihren Verdacht damit zum Wort, daß sie alle solche Lösungen nur befragt. Und sie macht noch mehr: sie enthüllt verdächtige Lösungen auch dort, wo sie als Selbstverständlichkeiten vorkommen, und zwar um auch sie dann zu befragen. Und ich muß sagen, daß es besonders jetzt unbezahlbare anscheinend selbstverständliche Vorurteile gibt, die philosophisch äußerst verdächtig sind und sein müssen. Eines solcher sehr allgemeinen Vorurteile haben wir schon erwähnt, nämlich daß ein geschichtliches Ereignis vom Anfang an das war, als was es sich später gezeigt hat, nur daß es nicht klar durchschaut wurde. Das Falsche und sogar Gefährliche dieses Vorurteils besteht besonders in der Form, wie man der eigenen Verantwortung dafür, was man da getan oder vielmehr nicht getan hat, entgehen will und anscheinend auch entgeht. Das hängt wieder mit einem anderen Vorurteil zusammen, daß hinter dem, was uns nicht gefällt oder was wirklich auch aus dem gesellschaftlichen Standpunkt schädlich ist, immer jemand Mächtiger oder eine mächtige Gruppe steht, die es vorher durchdacht und geplant haben und die es jetzt durchführen. Weil die Anderen darüber nicht wissen, sind sie machtlos und können dagegen nichts tun, ja sie können sich auch nicht einmal verteidigen. Da muß ganz klar und mit vollem Ernst gesagt werden: nur Kinder sind dann politisch unschuldig, alle normale Erwachsene sind für die innere Lage des Landes mitverantwortlich und haben also auch ihre eigene Schuld daran, wie sich die Verhältnisse verschlimmern. Das heißt z.B., daß wir zwar die massenhafte „milde“ Kollaboration mit dem jahrelang sich durchsetzenden politischen Regime menschlich verstehen, aber nie entschuldigen können. Für vieles Unangenehme, was uns in unseren „osteuropäischen“ Gesellschaften heute begegnet, sind wir mitverantwortlich, und wir müssen es wissen. Nur wenige Politiker sind heute bereit es tapfer auszusprechen, weil es die Leute nicht gerne hören.

    Dieses mehr oder weniger klare Gefühl einer gewissen Mitverantwortung für die vier Jahrzehnte dauernde politische und kulturelle Katastrophe in unserem Lande machte es ganz am Anfang des sog. Umbruchs möglich, daß sich das Wort, ja das Stichwort der Studenten: „Wir wollen keine Gewalt!“ so breit durchsetzen konnte. Das alles ist aber ziemlich bald, schon nach einigen Wochen oder wenigen Monaten, verschwunden. Warum? Es ist ganz einfach: kein Politiker wollte damit arbeiten, keiner von ihnen wollte auf diesen noch überhaupt nicht oder nur ganz selten klar ausgesprochenen Gedanken anknüpfen. Wieso, daß die Leute am Anfang noch ihre Mitverantwortung für das Gewesene fühlten? Ich bin nicht sicher, ob ich mich nicht irre, aber bin überzeugt, daß es ein Ergebnis oder besser eines der Ergebnisse des jahrelang überdauernden und überlebenden Widerstandes einer ziemlich kleinen Gruppe der sog. Dissidenten war. Die Leute hörten von ihnen und von den Maßnahmen gegen sie fast jeden Tag aus den Sendern Freies Europa, BBC oder Voice of America usw., ja sie wurden darüber zwar falsch, aber doch auch in den heimischen Medien gewissermaßen informiert, und so konnten sie nicht sagen, daß sie nie darüber gehört haben. Und sie wußten in diesen Tagen auch noch, inwieweit sie in der vorigen Zeit nicht bereit waren auch ein bißchen mehr zu resistieren und so persönliche Verluste zu riskieren. Es gehört auch in diesen Zusammenhang, wenn ich am Rande vermerke, daß mit nur ganz seltenen Ausnahmen fast alle Charta-Leute nach den letzten Wahlen aus den politischen Funktionen verschwunden sind. Geblieben ist nur der Präsident, und dann noch einige weiteren, die sich an die neue Situation mehr oder weniger anzupassen wußten. Auch aus diesem Grund ist es für das innenpolitische Leben in unserem Lande wichtig, daß Havel in der Funktion wieder ist, obwohl wieder im Ausland ein falscher Eindruck entstehen könnte, daß er eine für die politische Situation repräsentative Gestalt ist. - Das alles und vieles Andere mehr spielt eine mehr oder weniger wichtige Rolle in dem, was sich heute ereignet und morgen ereignen wird. Auch jetzt sind die Leute für die Entwicklung der Lage mitverantwortlich und sind so keine bloße Objekte oder bloße Zuschauer der Geschichte.

    Mit einigen Beispielen wollte ich die These unterstützen, daß es sich zwar ganz allgemein und in jeder Situation, aber besonders in solchen großartigen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen und Umbrüchen nicht nur und nicht überwiegend um bloß objektive Prozesse handelt, an die man sich nun anpassen kann, die jedoch nicht im Wesentlichen beeinflußbar sind, sondern daß alles, was sich ereignet, immer gewisse Herausforderungen mitbringt, die auf unsere Reaktionen und Antworten warten. Wenn wir akzeptieren, daß jeder Bürger sich für seine Regierung und für die politische Entwicklung in seinem Lande verantwortlich fühlen soll und muß, müssen wir notwendigerweise auch mit seinen Gefühlen, seinem Verständnis der Dinge, seinen Vorstellungen dessen, was kommen könnte und kommen sollte, rechnen - und dann ihn auch – natürlich auf den Wegen der Vernunft - zu beeinflußen versuchen. Gerade für eine demokratische Ordnung ist es äußerst wichtig, daß sich die Bürger ein gewisses Niveau politischen a kulturellen Denkens zu eigen machen, so daß sie sich wirklich als Demokraten verhalten können. Alle diese Gefühle und Vorstellungen werden sich auch in den zukünftigen geschichtlichen Ereignissen und Entwicklungen irgendwie ausüben, natürlich nicht ohne gewisse leitende Ideen, in denen sie sich selbst finden und durch sie dann weiter in der Geschichte mitwirken werden. Die sozusagen nicht-gegenständliche Herausforderungen sind nicht für jeden lesbar oder entzifferbar, und so müssen die, die es lesen und entziffern können, auch den anderen mitteilen und sie auch davon überzeugen. - Ich wollte jedoch nicht nur darüber sprechen, inwieweit wir in jeder geschichtlichen Situation nicht lediglich begrenzt und bedingt sind, sondern wie sich für uns jede solche Situation auch in den nicht da-seienden, sondern erst ankommenden, uns ansprechenden Herausforderungen öffnet, sondern inwieweit zu unserem Verständnis der Gegenwart und der sie vorangegangenen Vergangenheit immer auch eine sonst wenig gedeutete Erfahrung eines Memento gehört. Also zum Schluß noch ein Paar Gedanken zu diesem zweiten Punkt. Es gehört zur Relativität, Bedingtheit und Endlichkeit unseres menschlichen Daseins, daß wir keine endgültige Instanz besitzen, die über wahres und falsches Verständnis der Dinge und der Situationen mit Recht entscheiden könnte und dürfte. Und so kann jeder auch solche großartigen geschichtlichen Ereignisse nur nach seinem besten Willen und Wissen interpretieren – oder leider auch ohne dem besten Willen und Wissen. Das gilt sowohl für das Verständnis der Herausforderungen der Gegenwart, als auch für die Beurteilung des schon Geschehenen. Auch ich muß jetzt ein Risiko annehmen, daß ich gerade das Memento des Zuendegehens des fast drei Viertel Jahrhundert dauernden ganz außerordentlich sich zur Weltmacht durchgesetzten Imperiums vielleicht schlecht beurteile.

    In diesem Jahrhundert kam es in mehreren Ländern zu gewissermaßen ähnlichen oder analogen gesellschaftlichen und politischen Prozessen und Entwicklungen, über die wir noch viel nachzudenken haben. Ich meine den russischen Leninismus und später Stalinismus und Post-Stalinismus, den spanischen und italienischen Faschismus und den deutschen Nationalsozialismus - allen war etwas Wichtiges gemeinsam: alle haben als großartige, ja fast heroische soziale oder gar sozialistische Programme und Bewegungen angefangen, um nur das schlimmste Übel wegzuschaffen (und es war immer ein wirkliches Übel, das müssen wir im Auge behalten), um dann in prekärer Situation eines Nichtwissens, wie weiter, den inneren und äußeren Feind zu konstruieren und endlich durch geschichtlich ziemlich verspätete und veraltete imperialistische Dränge die nicht mehr gut haltbare innere Situation anscheinend und meistens nur auf kurze Dauer zu lösen. Dazu war es in allen Fällen unausweichlich notwendig, ganze Massen von Leute zur aktiven Mitarbeit herbeizuführen. Das heißt, für unser heutiges Nachdenken, daß man mit Ideen kommen mußte, für die viele, wenn nicht die Mehrzahl der Leute ein Vorverständnis gehabt haben, die für ihre Ohren nicht ganz fremd waren, die ihren innersten, obzwar meistens nicht ganz geklärten Bedürfnissen, Neigungen und Hoffnungen zu entsprechen schienen. So was muß man doch ganz ernst nehmen. Die bloße Tatsache, daß alle diese Bewegungen zugrunde gegangen sind, daß sie vernichtet worden sind oder daß sie sich selbst vernichtet haben, ist lange nicht so wichtig wie das Faktum ihres im Verhältnis zu einem Menschenleben relativ lang überdauernden geschichtlichen Daseins.

    Politiker, die heute die ganze Angelegenheit als vollkommen erledigt beurteilen wollen, sind einfach gerade politisch blind und dumm. Etwas ist für alle diese schief gegangene politische und gesellschaftliche Entwicklungen charakteristisch und wichtig: sie haben mindestens versprochen, daß sie die ungünstige soziale Lage der breiten Massen zu verbessern und ihre Probleme lösen zu helfen bereit sind. Und sie haben es auch in einem gewissen Ausmaß tatsächlich gemacht. Niemand kann heute glauben, daß diese vielmals schon in bekannter Weise enttäuschten Erwartungen und Hoffnungen plötzlich aufgegeben werden. In unserer Welt gibt es immer größer werdende Massen von Leute, die nicht nur nach besserem Leben streben, sondern die schwer zu überleben imstande sind. Natürlich hat sich das Gewichtspunkt dieser oft ganz unter jeden menschlichen Maß lebenden Massen hauptsächlich in die sog. Dritte Welt verschoben hat, aber dort wird alles noch kommen. Heute handelt es sich um die Leute, die schon über das menschliche und unmenschliche Leben etwas wissen und die schon mindestens einmal in ihrem Leben glauben durften, daß sich ihre Aussichten, und das heißt auch Aussichten ihrer Nachbaren, ihres Volkes, ihres Landes verbessern werden. Die westlichen Ländern haben für ihre eigene Bürger manchmal ganz großartige Sozialprogramme vorbereitet und verwirklicht, und das hat auch dazu mitgeholfen, daß so viele Leute aus der ganzen Welt der Armen nach Westen umziehen wollen und daß sie oft ihr eigenes Leben riskieren, nur um die Möglichkeit nach Westen auszuwandern zu haben. Natürlich kann man in einer solchen Situation die Grenzen dichter machen. Aber löst es wirklich die Situation? Gibt es Ideen, die gerade heute und in der gegebenen Weltsituation diesen Scharen von Menschen ihre Gefühle, Hoffnungen und nur unklar getasteten Lebensziele zum Wort kommen lassen? Gibt es für solche Leute erlösende Perspektiven, Programme und wirkliche praktische Initiativen von der Seite jetzt nicht mehr des Westens, sondern schon des Nordens?

    Mir scheint es, daß auch wir im Zentral- und Ost-Europa damit rechnen müssen, daß es in der Welt Leute und Gesellschaften gibt, die von uns, nicht nur vom Westen verschiedenartige Hilfe brauchen und noch lange brauchen werden. Wenn wir gesehen haben, wie verhältnismäßig wenig Verständnis die reichen Länder vor einer gewissen Zeit für die Schwierigkeiten solcher Länder wie Griechenland, Spanien usw. hatten und wie die Politiker auch heute fast ohnmächtig sind vor ihren Wählern, um über die Notwendigkeit einer gut durchdachten Hilfe dem überwiegenden Teil der heutigen Welt zu sprechen, ohne die Sympathien und politische Unterstützung zu verlieren, und wenn wir auch in unseren eigenen Ländern sehen, wie die meisten Politiker nur den Weg einer womöglich raschen Anpassung an die westliche ökonomische Strukturen aufsuchen, dann fragt es sich, ob wir früher oder später nicht einer weiteren, vielleicht noch schlimmeren, extrem katastrophalen Entwicklung der Weltpolitik und der Weltlage entgegen kommen.

    [přečteno a korigováno 1. 11. 11 – pozn. aut.]