Vorwort [Wahrheit und Widerstand]
| docx | pdf | html ◆ předmluva / doslov, německy, vznik: 2. 5. 1987

Vorwort [ad: Wahrheit und Widerstand] [1987]

Die Beziehung des Philosophen zur Gesellschaft, zum politischen Geschehen und zu bedeutenden Augenblicken der Geschichte ist für ihn niemals nur ein Problem am Rande, das seine professionelle Orientierung nicht grundsätzlich anginge. Der Chemiker oder Biologe kann, durch seine bürgerliche Verantwortung motiviert, sein Laboratorium verlassen und an einer Demonstration teilnehmen, die gegen irgendein Projekt, das die Umwelt bedroht, gerichtet ist. Er kann auf Grund seiner Kenntnisse und reichen fachlichen Erfahrungen handeln, aber im Augenblick, wo er demonstriert, hört er auf, fachlich zu arbeiten; und falls er noch weiterhin über seine Arbeit nachdenkt, wird seine Aufmerksamkeit vom politischen Akt der Demonstration abgelenkt.

Beim Philosophen ist das anders. Gewiß sucht auch er die Konzentration in der Stille seines Arbeitszimmers, aber – wie ein tschechischer Denker, E. Rádl, sagt – „die Ruhe des Philosophen ist die Vorbereitung für seine Arbeit; sie ist die Revision des gestrigen Kampfes und das Pläneschmieden für den morgigen Kampf“. Philosoph zu sein bedeutet nicht Spezialisierung, sondern eine Lebeweise (einschließlich des Denkens). Die Leute wissen dies, oder sie ahnen es wenigstens, und deshalb verzeihen sie den Philosophen ungern ihre politischen Irrtümer, bürgerliches Versagen oder allgemein menschliche Fehltritte. Das ist kein Moralismus, da der Philosoph seine Maßstäbe nicht von außen anlegt. Das ist eher ein Aufruf zur Verantwortung, weil man allgemein „weiß“, daß der Philosoph seine umfangreichen „inneren“ Verpflichtungen hat. Und es sind gerade diese inneren Verpflichtungen, die den Philosophen einmal zur Teilnahme an einer Demonstration, das nächste Mal zu ihrer Ablehnung führen. Und es ist eigentlich erst inmitten einer solchen Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten, wo der Philosoph samt seiner Philosophie den entscheidenden Prüfungen unterzogen wird. Es muß gar nicht um Demonstrationen gehen; aber die Teilnahme am Leben der Gesellschaft und ihre Form sagen über den Philosophen etwas Wesentliches aus. Gewöhnlich kümmern sich die Leute nicht so sehr um die Philosophen; die Philosophen führt dies oft dazu, die Reaktion der Gesellschaft zu provozieren. Sie erreichen es des öfteren durch seltsame Mittel und übertönen so die, die auf ernste Gefahren aufmerksam machen. Wenn sich schon alle bedroht fühlen, wenn sich irgendein außerordentliches Geschehen anbahnt, erhöht sich plötzlich durchschlagend die Empfänglichkeit der breitesten Schichten. Und die Leute schauen sich nach Dichtern und Schriftstellern um, die an ihrer Stelle das aussprechen würden, was sie fühlen, was sie befürchten und worauf sie ihre Hoffnungen setzen. Aber sie wissen, daß dies nicht reicht, und deshalb schauen sie sich auch nach Philosophen („die Weisen“) um, die Ratschläge geben und helfen könnten. Und sofern sie nach ihnen nicht Ausschau halten, ist es vor allem die Schuld der Philosophen selbst, da sie in solchen Situationen versagen.

Es wäre ein Irrtum, anzunehmen, daß jeder Philosoph in erster Linie seine Vorschläge für die Weltveränderung vorlegen muß (auch wenn es wahrscheinlich wahr ist, was der schon zitierte Denker sagt, nämlich „je größer die Philosophie ist, desto mehr tritt ihr Hauptziel: ein Programm für die Weltreform zu sein, hervor“). Unsere Erfahrungen mit solchen „großartigen“ Projekten führen uns zu einer kritischen Vorsicht. Aber auch kleinere Philosophen können bedeutende Aufgaben haben: den Leuten die Situation klären zu helfen, in die sie schon durch ihr eigenes Bemühen oder durch das Zutun der anderen geraten sind.

Die Philosophie ist immer der Versuch, die Situation zu durchschauen, in der wir uns befinden; Jaspers sprach von der sog. Weltorientierung. Man kann hierbei jedoch nicht mit Verachtung als von einer bloßen „Weltinterpretation“ sprechen. Die Situation, die wir begriffen haben, wird zu einer anderen; die Interpretation der Welt ist die Voraussetzung für ihre Veränderung, und die richtige Interpretation ist die Voraussetzung für ihre Verbesserung.

Die Briefe, mit denen jetzt der deutsche Leser in einer umfangreichen Auswahl seine Bekanntschaft macht, setzen sich nicht mehr zum Ziel, als bei der Klärung einiger Aspekte unserer Situation hier und jetzt, genauso wie im Gespräch mit anderen, vorwiegend jungen Leuten, mit denen ich im engen Kontakt stand (insbesondere in kleinen Seminararbeitskreisen, aber auch außerhalb), behilflich zu sein. Jener „Freund“, an den die Briefe adressiert sind, war niemals eine so ganz imaginäre Gestalt, sondern es standen konkrete junge Menschen mit ihren Fragen, Zweifeln und Einwänden hinter ihm. Am Anfang dachte ich nur an einige wenige Briefe, aber dann konnte ich nicht mehr aufhören. Ich mußte nur das Tempo ein wenig drosseln: Am Anfang habe ich jede Woche Briefe geschrieben, aber mitten in den betriebsamen Tagen, die voll von verschiedensten Tätigkeiten, Verhandlungen, Diskussionen, aber auch von einer erzwungenen Ruhe in Zellen der vorläufigen Verwahrung oder ein ander Mal wieder von stundenlangen Hausdurchsuchungen oder Verhören usw. waren, war das Briefschreiben für längere Zeit menschenunmöglich. Aber auch später war nicht genug Zeit; ich schrieb hastig, direkt in die Maschine, ohne Rücksicht auf literarische Gestaltung, Sprachgewandtheit und logischen Aufbau. An den Briefen kann einiges bemängelt werden; ich bin mir dessen bewußt. Aber es sind keine „Briefe an das tschechische Volk“; ich hatte nicht die Absicht, die gespannte Lage und die Erhabenheit der Gemüter dafür auszunutzen, um in gebührlicher romantischer Ausschmückung und mit dröhnendem Pathos ewige Wahrheiten zu verkünden. Mein Vorhaben war praktisch und durchaus zivil. Aber manchmal schlich sich in die Texte auch ein ungewolltes Pathos ein, wofür ich mich heute entschuldige.

Am Neujahrstag des Jahres 1977 hat die Charta ’77 ihre erste, sogenannte Grunderklärung herausgegeben, in der eine ziemlich kleine Gruppe von 241 Menschen unterschiedlichster politischer und kultureller Anschauungen bekanntgegeben hat, daß sie entschlossen sei, viel von ihrer Zeit und ihren Kräften darauf zu verwenden, damit in der Gesellschaft besser als bisher die Menschen- und Bürgerrechte respektiert und durchgesetzt werden können. Weniger als vierzehn Tage danach wurde einer der ersten drei Sprecher, Václav Havel, verhaftet. Die anderen beiden Sprecher und eine ganze Reihe von weiteren Unterzeichnern wurden von der Staatsanwaltschaft vorgeladen und offiziell verwarnt; es wurde die Verfolgung eines unbekannten Täters einer angeblichen antistaatlichen Aktion eingeleitet, womit unzählige vorläufige Festnahmen, Hausdurchsuchungen und Verhöre begründet wurden. Und während der ganzen Zeit verlief eine unerhörte desinformierende Kampagne, in die alle Massenmedien eingeschaltet waren. Er wurden große Versammlungen in den Betrieben und auch außerhalb einberufen, auf denen die Charta ’77 verurteilt wurde, ohne daß dabei ein einziger Satz, ein einziges Wort aus dem Wortlaut der Grunderklärung vorgelesen wurde. Das Gesetz, womit die beiden internationalen Abkommen über die Menschen- und Bürgerrechte in unsere Rechtsordnung eingegliedert worden waren, wurde aus dem Verkehr gezogen und bei den Haus- und Personendurchsuchungen konfisziert. Nur wenige Leute wurden damals informiert, worum es geht und was eigentlich geschieht. Selbst die Nachrichten der ausländischen Rundfunkstationen waren unvollständig und ziemlich ungenau. Man begann, auf der Schreibmaschine mit so vielen Durchschlägen, wie noch gerade lesbar waren, verschiedenste Dokumente der Charta ’77, Informationen, Artikel, Feuilletons usw. fieberhaft abzuschreiben. Die Begeisterung der Abschreibenden kannte keine Grenzen, es herrschte Not an geeigneten Texten. Und mitten in das Geschehen schlug wie ein Blitz die Nachricht ein: nach mehrtägigen stundenlangen Verhören wurde Professor Patočka, auch einer der ersten drei Sprecher, ins Krankenhaus gebracht, von wo er noch Texte und Briefe geschrieben und sogar sein letztes Interview gegeben hatte. Und dann, am 13. März 1977, ist er nach einem neuen Krankheitsanfall gestorben. In diesen Tagen habe ich meinen fünften „Brief an einen Freund“ geschrieben.

Ladislav Hejdánek

Prag, den 2. 5. 1987