961107-1
| docx | pdf | html ◆ philosophical diary – record, Czech, origin: 7. 11. 1996
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    Eine philosophische Reflexion der Situation am Ende des 20.Jahrhunderts muß ein wenig in Distanz stehen gegenüber der bisherigen europäischen Tradition, die sich schon seit den alten Griechen durchsetzte, nämlich sich vor allem um das Seiende als Seiendes zu kümmern. Den Historikern überlassen wir das schon Geschehene und deswegen nicht mehr Seiende. Was für uns Nicht-Historiker entscheidend ist, ist die Zukunft. Gerade jedoch weil wir in der Zukunft interessiert sind und sein müssen, brauchen wir eine gute Kenntnis der Vergangenheit, denn die Geschichte ist voller Fehler und Irrtümer, voller Dinge, die nicht hätten geschehen sollen, wie es einer unserer Historiker, der auch hier anwesend ist, gesagt hat. Zu einem gewissen Maß hat er recht, jedoch ohne alle diese Fehler und Irrtümer, die als solche erkannt worden sind, wäre es / viel mehr wahrscheinlich, daß wir das alles von neum tun müßten. Ich kenne es beispielsweise aus der Philosophiegeschichte. Nur gute Kenntnis und gute Orientierung in der Vergangenheit verschiedener philosophischer Konzeptionen kann uns davon bewahren, womöglich nur neue große Fehler zu machen. Sowas gilt jedoch auch und ganz besonders für unser gemeinsames, gesellschaftliches und politisches Zusammenleben. Wir dürfen – und sehr oft müssen – uns mit der Vergangenheit recht sorgfältig auseinandersetzen. Unser Ziel ist es jedoch nicht, immer nur zum Vergangenen zurückzuschauen oder gar, es nachzuahmen und neu zu beleben, sondern nur das beste auszuwählen und sonst alles schlimme, Dumme und Unnützige in das „nicht-mehr-Seiende“ und damit zum Abfall der Geschichte fallen zu lassen. Gerade in diesem Sinne kann ich als Mitglied der protestantischen Minderheit, die in unserem Lande übriggeblieben ist, und später als aktiver Chartist sowohl an Beziehungen zu unseren ostdeutschen nichtopportunistischen Brüdern und Schwestern in der Kirche denken, als auch an deutsche Aktivisten der Menschenrechtsbewegungen. Wir verstanden einander und sahen klar, daß Zusammenarbeit eine bessere Perspektive darstellt als Konflikt und Kampf.

    (Beitrag zur Podiumsdiskussion, Berlin, Schloß Bellevue am 7.November 1996; in: 7781, – Dissidenten, Präsidenten und Gemüsehändler, Essen 1998, S. 258-9.)

    (Berlin, 961107-1.)