LADISLAV HEJDÁNEK ARCHIVES | Cardfile

Here you will find a digitized image of Hejdánek's original filing cabinet. Its total volume is many thousand tickets. We publish them in parts as we handle them. At the moment we have worked out what prof. Hejdánek himself developed electronically. However, much work remains on paper cards. In addition to Hejdánek's extracts from reading, the filing cabinet also includes his own thought work from recent years, which cannot be found elsewhere.


Filosofie – bez předpokladů? | Philosophie – Voraussetzungslosigkeit

Georg Simmel (1920)
Dieses einzigartige Verhalten der Philosophie ist die Folge oder vielleicht nur der Ausdruck ihrer grundlegenden Bemühung: voraussetzungslos zu denken. Wie es dem Menschen überhaupt nicht gegeben ist, ganz und gar »von vorn an/9/zufangen«, wie er in sich und außer sich immer eine Wirklichkeit oder eine Vergangenheit vorfindet, die seinem Verhalten einen Stoff, einen Ausgangspunkt oder wenigstens ein Feindseliges und zu Vernichtendes bietet – so ist auch unser Erkennen von irgendeinem »Vorgefundenen« bedingt, von Realitäten oder inneren Gesetzen; von ihnen, die der Denkprozess selbst nicht erzeugen kann, hängt, in mannigfaltigster Beschränkung seiner Souveränität, sein Inhalt und seine Richtung ab – und seien es auch nur die Regeln der Logik und der Methode oder das Faktum einer bestehenden Welt. Wo nun das Denken dennoch versucht, sich jenseits von Voraussetzungen überhaupt zu stellen, beginnt es zu philosophieren. Im ganz radikalen Sinne freilich wird dieser Versuch selten auch nur unternommen. Es wird vielmehr in der Regel ein Erkenntnisbild erstrebt, das von irgendwelchen einzelnen Voraussetzungen unabhängig ist: von dem unmittelbaren Eindruck der sinnlichen Welt oder von den hergebrachten moralischen Wertungen, von der selbstverständlichen Gültigkeit der Erfahrung oder der ebenso selbstverständlichen Realität göttlicher Mächte. Aber selbst in solcher Begrenzung unterscheidet sich die philosophische Voraussetzungslosigkeit von der andrer Gebiete durch die mitschwebende Stimmung: dieses Sich-selbst-Gehören des Denkens, diese von nichts Äußerem gebundene Konsequenz seiner betreffe, über die momentane Einzelheit hinaus, das Ganze des Erkennens, ja, des Lebens. Die vollkommene Voraussetzungslosigkeit ist freilich unerreichbar. Wo auch das Erkennen einsetzt, irgend etwas ist schon vorausgesetzt, das uns entweder als ein Dunkles, nicht zu Bewältigendes ängstigt, oder umgekehrt uns ein Halt in der Relativität, dem Fließen, dem Nur-sich-selbst-Haben der Erkenntnis ist. Darum ist die absolute Voraussetzungslosigkeit zwar ein richtunggebendes, aber nicht ein erreichbares Ziel des philosophischen Denkens, /10/ während sie dies in andern Wissensgebieten von vornherein nur in relativem Maße ist. Wo sich die Philosophie zur Erkenntnistheorie entwickelt, hat dies den tieferen Sinn, dass sie nun die Voraussetzungen des Erkennens, auch des philosophischen selbst, aufsucht und anerkennt, oder eben dadurch dies außerhalb ihrer Gelegene in ihre Jurisdiktion, ihre Erkenntnisformen einbezieht.
(0594, Hauptprobleme der Philosophie, Berlin + Leipzig 1920, S. 8-10.)
date of origin: březen 2007