Podiumsdiskussion
docx | pdf | html ◆ article, German, origin: 1998
  • in: Doris Liebermann – Jürgen Fuchs – Vlasta Wallat (ed.), Dissidenten, Präsidenten und Gemüsehändler. Tschechische und ostdeutsche Dissidenten 1968–1998, Essen: Klartext, 1998, p. 252–273

Podiumsdiskussion [1998]

Teilnehmer der Podiumsdiskussion im Schloß Bellevue: Marianne Birthler, Ladislav Hejdánek, Petr Uhl, Václav Malý, Arnold Vaatz, Jürgen Fuchs.

Moderation: Jiří Gruša.

Jiří Gruša: Damit ist die Stimmung gegeben, aber wie sie unserer Sache jetzt entspricht, weiß ich noch nicht. Denn wir wollen jetzt auch eine politische Diskussion führen, und ich möchte zuerst unterstreichen, daß wir die Möglichkeit dazu nicht nur der guten Entwicklung der tschechisch-deutschen Beziehungen, sondern auch einer speziellen Beziehung zwischen dem Bundespräsidenten und unserem Präsidenten Václav Havel verdanken. Das ist, wenn ich mich nicht irre, das vierte Treffen in einem Jahr. Wir haben hier eine Art des Dialogs entwickelt, die alle die Qualitäten eines Dialogs hat, das bedeutet, wir haben die Intersubjektivität eingeführt: man schätzt den Partner genauso hoch wie sich selbst. Man erwartet von ihm, daß er in seiner Rede fortfährt und man wählt die richtige Tonlage. Und noch etwas Wichtiges ist heute passiert. Wir, die wir hier zusammen sind, haben seit Jahrzehnten eine klare gemeinsame tschechisch-deutsche Politik betrieben. Eine Politik mit anderen Werten, die die Gegenwart als Grundlage des Zukunftsgewinns einsetzte, die das Verständnis untereinander und die Analyse des jeweiligen totalitären Systems zur Grundlage einer kooperativen Basis machte, die uns weiter trug und die uns dazu gebracht hat, daß wir dies hier alle erleben. Wir erleben unsere Freiheit: das letzte Wort, das auf tschechisch erklang, hieß „svoboda“, das heißt „Freiheit“. Und die Deutschen erleben ihre Einheit. Wir haben dieses Transparent gesehen, und ich habe meinen Kollegen Petr Uhl darum gebeten, aus den alten Papieren die „Prager Erklärung“1 herauszusuchen. Es ist eine Erklärung aus dem Jahre 1985, in der wörtlich steht: „Wir können auch einige bisherige Tabus nicht länger meiden. Eines davon ist das geteilte Deutschland. Sagen wir es offen, die Deutschen haben das Recht, frei zu sein.“ Im Originaltext heißt es: „Gestehen wir doch den Deutschen offen ihr Recht zu, sich frei zu entscheiden, ob und in welchen Formen sie die Verbindung ihrer beiden Staaten in ihren jetzigen Grenzen wollen.“ Das wurde schon im Jahre 1985 formuliert. Es ist unterschrieben von einer Reihe von Persönlichkeiten, eine von ihnen sitzt heute hier, er war tschechoslowakischer Außenminister.2

Zum Podium:

Meine rechte Seite repräsentiert unsere Linke: das ist mein Kollege Petr Uhl; auf der linken Seite ist unsere Rechte, das ist Herr Václav Malý, der tschechische Priester. Vielleicht erinnern Sie sich an seine Rede auf dem Wenzelsplatz, damals, vor sieben Jahren. Hier sitzt mein alter Kollege Jürgen Fuchs, den ich hier nicht vorstellen muß, ein guter, toller, deutscher Schriftsteller, mit dem ich mich schon vorher und später gemeinsam – unerwartet – in dem anderen Teil Deutschlands wiedergefunden habe. Hier sitzt ein tschechischer Philosoph, mein Kollege Ladislav Hejdánek. Und hier, wiederum keine große Vorstellerei, liebe Marianne, ich bin glücklich, daß Sie die Frauen hier vertreten, ich muß Sie nicht vorstellen. Also wir fangen an, und natürlich, Ihr im Publikum seid auch eingeladen, mitzumachen bei unserer Diskussion.

Das Thema haben die Herren Präsidenten Havel und Herzog schon genannt: wir lebten in einem totalitären System, haben darauf reagiert. Jetzt sollen wir uns einige Frage stellen, die damit zusammenhängen. Wie war das eigentlich möglich? War das nur die Frage einer direkten Auseinandersetzung? War das in Deutschland anders als bei uns? Welche Erfahrungen haben wir dann gemeinsam? Meine erste Frage ist: Was waren die privaten Schicksalsschläge, die einen dazu brachten, dieses System so zu behandeln, wie es uns behandelt hat? Das ist die Frage an Sie:

Marianne Birthler: Ich habe mich längere Zeit dafür interessiert, schon zu DDRZeiten, warum die einen in den unterschiedlichen Gruppen, die dann später Opposition genannt wurden, gearbeitet haben, und die anderen nicht. Es hat sich dabei ein Muster gezeigt. Es war sehr häufig etwas, was ich zusammenfassen kann als die Verteidigung der eigenen Integrität. Häufig herausgefordert dadurch, daß man irgendein Thema hatte, sehr schnell Grenzen gespürt hat, und schon wurde das Thema nicht mehr das, was man ursprünglich wollte, sondern die Grenze, an die man gestoßen ist. Das hat zum Gespräch geführt. Aber wenn Sie noch eine andere Bemerkung erlauben: bei all diesen Verbindungen, die zwischen uns bestehen und auch bestanden, ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, daß zu Zeiten der DDR, oder in der DDR, es nicht nur etwas gab, was wir den verordneten Antifaschismus nannten, sondern auch etwas, was man verordnete Freundschaft nennen könnte. Es gab natürlich Begegnungen, organisierte Begegnungen, wir waren auch füreinander Reiseländer, für private Reisen. Aber das, was sich zwischen der Bevölkerung der ČSSR und der DDR abgespielt hat, war weit von dem entfernt, was z. B. im Blick auf deutsch-französische Aussöhnung geschehen ist. Ich sehe hier auch eine wichtige Verantwortung im Hinblick auf die Zukunft, daß wir nachholende Prozesse, auch der Verständigung, besonders unter Jugendlichen, zu unserer Verantwortung zählen.

Jiří Gruša: Eine Erfahrung war für mich persönlich immer wichtig. Als ich draußen war, hat man mich immer angesprochen und gesagt: wie war das möglich damals im Jahre 68, wie habt Ihr da die Invasion, auch die der Deutschen, empfunden? Und ich war überrascht, denn wir haben das damals gar nicht so schrecklich den Deutschen in die Schuhe geschoben, sondern ganz richtig geographisch an die richtige Adresse weitergeleitet. Dennoch: meine Überraschung war die Erwartungsstufe der Deutschen, der Deutschen aus der ehemaligen DDR, die sie in die Entwicklung des Prager Frühlings investiert hatten. War das wirklich so wichtig und mit so vielen Sympathien verbunden bei den breiteren Schichten, oder waren das nur die Intellektuellen und die Dissidenten?

Arnold Vaatz: Ich möchte vielleicht erstmal auf etwas hinweisen. Wenn man unser Podium sieht, dann stellt man fest, daß wir nahezu unterschiedliche Generationen sind. Die tschechischen Teilnehmer sind ein bißchen älter, und ich gehöre zu denjenigen, die 1968 noch ein Kind gewesen sind. Ich war damals 13 Jahre alt. Und ich kann mich an den 21. August 1968 trotzdem noch genau erinnern, weil sich an diesem Tag das erstemal der Schock meiner Eltern über das, was geschehen ist, auf mich selbst übertragen hat. Im Vorfeld haben wir schon beobachtet, wie die Panzer sich in unseren Orten gesammelt haben. Wir waren aber der Auffassung, oder wollten eher daran glauben, daß es sich nicht um die Vorbereitung einer Invasion handelt, sondern daß man vielleicht die Grenzen nach der Tschechoslowakei ebenso abriegeln will wie die nach Westdeutschland, weil die „Gefahr“ vielleicht bestand, daß sich die Demokratisierung in der Tschechoslowakei so auswirken würde, daß auch deren Westgrenze für uns passierbar würde. So dachten oder so wollten zunächst die Älteren denken. Dann war das, was alle in ihrem Hinterkopf als Angst empfunden hatten, plötzlich Wahrheit und der Einmarsch ist geschehen. Die deutschen Nachrichten haben damals nonstop davon berichtet. Es ging ein Schock insbesondere durch Ostdeutschland. Ich kann mir nicht vorstellen, daß das ähnlich tief im Westen gewirkt hat. Es waren viele Eltern, die fragten, ob ihre Söhne denn auch mit in der Tschechoslowakei eingesetzt waren. Es dauerte eine Weile, bis überhaupt von dort die ersten Postkarten geschickt werden durften, bis man Gewißheit hatte, und die Älteren saßen vor den Fernsehapparaten bis spät in die Nacht hinein. Die Kinder wurden vergessen. Wir durften ewig aufbleiben in diesen Tagen. Normalerweise mußte es ja etwas eher ins Bett gehen. Von diesem Zeitpunkt an ist mir das erstemal die unbarmherzige Härte der Konfrontation klargeworden, die im gesamten osteuropäischen Imperium herrschte. Das ist im Grunde mein Anfang gewesen. Später, muß ich sagen, habe ich insbesondere aus dem Erleben der tschechischen Opposition, aber natürlich auch der polnischen Opposition, aus der Ferne unglaublich viel Kraft für mich persönlich bezogen. Denn – und jetzt komme ich auf die unterschiedlichen Generationen zurück – in Deutschland, oder in der damaligen DDR, war es eben so, daß es sehr viel einzelnes Aufbegehren wohl gegeben hat gegen diesen Staat, aber es endete fast regelmäßig damit, daß diejenigen, die das taten, nach einer Weile abgeschoben wurden, oder mehr oder weniger unter Anwendung von Zwang in die Bundesrepublik Deutschland übersiedelten. Und dann für uns nicht mehr verfügbar waren. Wir sahen ganz deutlich, daß es eben in der Tschechoslowakei diese Möglichkeit gar nicht gab. Daß man sich dort auf eine viel unbestimmtere Zeit einrichten mußte, wenn man es tatsächlich unternahm, sich mit dem Staat einzulassen. Allein die Tatsache, daß das Menschen fertigbrachten, hat, glaube ich, die Jüngeren unter uns so beeindruckt, daß wir ihnen ein bißchen nacheifern wollten.

Jiří Gruša: Ich habe noch eine andere Erfahrung aus der Zeit. Wenn ich so zurückdenke, dann war die Beziehung zu der deutschen Frage bis 68 mehr oder weniger eine unterschwellige. Man hat da nicht viel entwickelt. Eine Frage an

Petr Uhl: War das auch bei den Linken bei uns so, daß erst die Invasion zur Folge hatte, daß wir kooperativer wurden? Seitdem wurde die tschechisch-deutsche oder tschechisch-ostdeutsche Basis, könnte man sagen, immer stärker.

Petr Uhl: Ich denke, das war so, nach meiner Erinnerung. Ich war in der Studentenbewegung tätig im Jahre 1968. Bei uns war die DDR, bis auf einige Studenten in Dresden, die dort gegen totalitäre Praktiken demonstriert hatten, ein unbekanntes Land. Wir haben uns am SDS orientiert, an Rudi Dutschke, an Christian Semler, unsere deutschen Freunde aus dieser Zeit. Wir haben Erfahrungen aus Polen, aus Frankreich übernommen.

Die DDR als Problem oder als Partner allmählich, oder als Muster später, ich werde darüber noch sprechen, begann erst mit der sowjetischen Invasion für uns interessant zu werden. Das war sehr interessant, weil wir die erste Reaktion aus den Liedern von Wolf Biermann erfahren haben. Daß er über das rote Prag gesungen hat, das wird Sie vielleicht überraschen. Es war das Prag von Dubček. Aus den Prozessen gegen Havemann und seine Söhne, das hat uns natürlich einander nähergebracht. Ich würde sagen, daß in der Tschechoslowakei der Erneuerungsprozeß, d. h. der Prager Frühling 1968, und die militärische Invasion selbstverständlich eine direkte Wirkung hatte auf den Widerstand, der dann zwanzig Jahre existierte. Das war evident. Die Charta 77 ist als ein pluralistisches Meinungsbündnis entstanden, teilweise als Konsequenz des Prager Frühlings, in einer Zeit, als der Reformweg abgeschnitten war und man sich auf die Menschenrechte konzentrieren mußte, mit anderen Leuten, hauptsächlich mit christlichen Freunden. Kein anderes Land hatte die Erfahrung von eineinhalb Millionen aus der Partei ausgeschlossenen Kommunisten. Das alles hat es in der DDR nicht gegeben. Es war normal, daß die evangelische Kirche in der DDR in gewisser Hinsicht mit dem Staat zusammengearbeitet hat. Es war normal, daß der Schriftstellerverband auch zusammengearbeitet hat, gleichzeitig aber auch etwas oppositionell war. Die spätere Entwicklung in der DDR war dann für uns, für die Charta 77, außerordentlich inspirierend. Während wir uns ausschließlich auf Menschenrechte und oppositionelle politische Tätigkeit konzentrierten, gab es in der damaligen DDR eine sehr breite Friedensbewegung, Kriegsdienstverweigerung, eine sehr ausgedehnte ökologische Bewegung, von denen wir gelernt haben, und wir haben darüber unsere oppositionelle Öffentlichkeit informiert. Auch die kirchliche Bewegung, die Kirche als Ganzes, die evangelische Kirche wurde eine unabhängige Kraft. Auch die Frauenbewegung, die es bei uns überhaupt nicht gegeben hat, erste Anzeichen dazu gab es erst im November 1989. Die Aktualität der Probleme war in der DDR größer und betraf insbesondere die junge Generation. Bei uns war die unabhängige Bewegung mehr politisch, da war sehr stark die ältere Generation vertreten, auch 60jährige und ältere. Und die damalige junge Generation, die heute um die 30, 35, 40 sind, die trat gerade an, als die mittlere, damals meine Generation, fehlte. In der DDR war das Generationsproblem noch stärker. Ja, die DDR-unabhängige Bewegung war inspirierend für uns. Wir haben programmgemäß in jede Nummer der „Informationen über die Charta 77“ etwas aus Polen, Ungarn, der DDR aufgenommen. Wir haben Kontakte gesucht, und haben gemeinsame Erklärungen veröffentlicht, und wir haben gewußt, daß unsere StB und die Stasi zusammenarbeiteten.

Jiří Gruša: Die Institutionen haben längst kooperiert. Dennoch, aus meiner Erfahrung, war da noch ein kleiner Unterschied. Bei den anderen Völkern war der Prager Frühling, mehr als bei uns damals zu Hause, mit dem Gedanken der nationalen Unabhängigkeit verbunden. Wir haben dies damals nicht so akzentuiert. Irre ich mich bei der Einschätzung der Lage, oder war das damals in der DDR so, daß du, Jürgen, damit auch den Gedanken der Befreiung im nationalen Sinne verbunden hast?

Jürgen Fuchs: Ich habe die Charta 77 in der Haft erlebt. Und, Jiří, in der Haft waren die großen Worte zu Ende. Ich kann auf deine Frage nicht antworten in großen Worten. Denn ich habe erlebt aus einer sehr interessanten Optik, – der der Haft in Hohenschönhausen -, wie nervös dieses allmächtige Organ wurde. Ich wußte gar nicht gleich, was geschehen ist, ich wurde verstärkt zu Vernehmungen geholt, ich war mit Reiner Kunze befreundet, der viel aus dem Tschechischen übersetzt hatte, und sie wollten alle Verbindungen wissen. Mit einem großen und schönen Gefühl erinnere ich mich als politischer Häftling an die Zeit der großen Nervosität dieser Staatssicherheit im Jahre 1977. Und wenn ich noch sagen möchte, was uns so sehr interessiert hat, und was ich heute auch bei Jaroslav Hutka und bei Präsident Havel hörte, der damals noch kein Präsident war, das war diese Sprache der Ehrlichkeit, nicht dieser politische Pomp. Nicht diese aufgeblähte, pseudohafte Sprache, und das haben wir bei Michnik, bei Havel und bei Vaculík gespürt und gemocht. Und Jiři, wenn du mich so fragst, würde ich sagen, ich war in einer interessanten Grundsituation. Václav Havel hat vorhin etwas angesprochen: sind wir die Ehemaligen, sind wir die Bürgerrechtler, die ins Museum gehören? Sind wir die, die mal etwas gemacht haben – aber was ist jetzt? Erstens, ich spreche nicht aus dem Museum, – gut, es ist ein hohes Podium -, die Lage der politischen Gefangenen in der Welt ist nicht besonders, ich erinnere an China. Ich erinnere an die vielen Orte, an denen es Menschen schlecht geht. Die Internationale dieser Menschen besteht. Und die zweite Optik war eine interessante, und sie hat sehr mit dem Jahr 1968 zu tun. Ich will das nur ganz kurz sagen: Ich war Schüler, und die Panzer fuhren durch unser Viertel, so wie bei Arnold Vaatz, hinauf an die Grenze. Deutsche Panzer, aber viele russische auch aus den Kasernen. Und ich war entsetzt. Ich war 16, 17 und dachte nicht: sind wir die Ehemaligen?, sondern: bin ich zu jung, um etwas zu machen? Habe ich noch nichts zu sagen? Auch eine interessante Frage. Meine Eltern warnten mich und sagten: sei leise, um Gotteswillen. Ich ging an die Straße, und dort sah ich sie fahren, und es war ganz still. Laute Ketten, laute Ketten, aber ganz still die Leute. Ältere Leute auch, und einer sagte: „Jetzt sind die Tschechen dran. So schnell geht das heute, in zwei, drei Tagen. Die Technik“, sagte er. Es war ein älterer Mann, er hätte eine graue Uniform der Wehrmacht tragen können. Und an dieser Straße war für mich alles da, alles, auch diese erste Diktatur, auch dieses Münchner Abkommen, das Jahr 39, diese Brutalität, diese Gewalt. Der große Schock, Jiří, war, daß ich als junger Deutscher stand, – ich mußte mich nicht schämen, ich komme aus keiner Nazi-Familie –, ich stand und mußte etwas tun. Und weißt du, was ich gemacht habe, ich habe am Bahnhof ganz klein geschrieben, man hat es dann wahrscheinlich nicht gelesen, „Dubček“. Aber sehr klein. Und aus dieser Herausforderung möchte ich sprechen, sie besteht nach wie vor. Und was ist heute? Ich würde sagen: Was ist heute? Die alte Grundfrage, wer macht die Klappe auf gegenüber den Problemen, die dran sind und die immer peinlich sind.

Jiří Gruša: Zu dieser Frage möchte ich nach Václav Malýs Antwort kommen, denn die stelle ich dann generell.

Václav Malý: Die Frage der unabhängigen Bewegungen: die Unterdrückung des Prager Frühlings hat Europa geholfen, die Unterdrückung im Ostblock wahrzunehmen. In Ungarn und in Polen 1956 war es noch zu früh, daß der Westen erkennen konnte, was tatsächlich passierte, während die Niederschlagung des Prager Frühlings im Westen den Leuten die Augen geöffnet hat. Die Zeit war reif geworden, so daß man erkennen konnte, was es auf sich hatte mit dem „idealen Paradies“ der Sowjetunion. Wir Christen waren schon seit den 50er Jahren Bürger zweiter Klasse. Wir waren in der Charta 77 zusammengekommen und wir haben dort gelernt, uns gegenseitig zu tolerieren und uns gegenseitig zu akzeptieren und auch mit jenen umzugehen, die wir nur aus den Zeitungen und der Literatur kannten. Diese Bedeutung hatte das bis weit in die 70er und 80er Jahre hinein. Was die Frage angeht, ob es uns um nationale Unabhängigkeit ging oder nicht: darum ging es nicht. Wir waren in der Charta Menschen ganz unterschiedlicher Überzeugung, Christen, Linksgerichtete, Rechtsgerichtete, Leute mit sozialdemokratischen politischen Theorien. Uns ging es vor allem darum, daß wir in unserer Tätigkeit den Respekt vor der menschlichen Würde ausdrückten. Und dieses war unsere Gemeinsamkeit, und zwar der ehemaligen Kommunisten genauso wie der Christen. Die Kommunisten haben dieselben Dokumente unterschrieben und mit uns zusammengearbeitet. Das primäre Ziel war es nicht, nationale Unabhängigkeit zu erreichen, sondern die Respektierung von Bürgerrechten. Und auch dadurch wäre es zu einer Durchlöcherung der Grenze gekommen, und wir hätten einen Zustand erreicht, in dem wir selber über uns entscheiden können. Wir lebten in einem gemeinsamen Staat mit Slowaken und Tschechen. Aber die Charta 77 hat die Slowaken kaum erreicht. Das war eine tschechische Angelegenheit. In der Slowakei gab es nur einige Leute, die der Charta beigetreten sind. Möglicherweise hat in der Slowakei die Frage der nationalen Unabhängigkeit eine größere Rolle gespielt. Im Grunde kam die Frage gar nicht zur Diskussion. Sie wurde nur in historischen Zeitschriften diskutiert.

Jiří Gruša: Das ermöglicht mir jetzt die Frage nach den „Veteranen“ zu stellen, oder den Leuten, die noch etwas zu sagen haben. Meine Frage heißt: ist es heute noch so, daß wir uns intensiv mit all den Methoden der alten Herrschaft beschäftigen sollen? Wir sind in all diesen Ländern in zwei Lager geteilt. Einige sagen Amnestie und Amnesie, andere sagen Restitution und Retribution. Das ist mir zu hart gegeneinander gestellt. Also die Frage an meinen Philosophen, Ladislav Hejdánek, hier. Haben wir noch gute Gründe, uns intensiv damit zu beschäftigen, oder sollen wir einer historischen Betrachtung, einer gewissen Sachlichkeit, Distanziertheit, den Vorzug geben, und so wie manche sagen: die Zukunft wird das alles klären, die Gegenwart ist ja ohnehin zu kompliziert.

Ladislav Hejdánek: Eine philosophische Reflexion der Situation am Ende des 20. Jahrhunderts muß ein wenig in Distanz stehen gegenüber der bisherigen europäischen Tradition, die sich schon seit den alten Griechen durchsetzte, nämlich sich vor allem um das Seiende als Seiendes zu kümmern. Den Historikern überlassen wir das schon Geschehene und deswegen nicht mehr Seiende. Was für uns Nicht-Historiker entscheidend ist, ist die Zukunft. Gerade jedoch weil wir an der Zukunft interessiert sind und sein müssen, brauchen wir eine gute Kenntnis der Vergangenheit, denn die Geschichte ist voller Fehler und Irrtümer, voller Dinge, die nicht hätten geschehen sollen, wie es einer unserer Historiker, der auch hier anwesend ist, gesagt hat. Zu einem gewissen Maß hat er recht, jedoch ohne alle diese Fehler und Irrtümer, die als solche erkannt worden sind, wäre es viel mehr wahrscheinlich, daß wir das alles von neuem tun müßten. Ich kenne es beispielsweise aus der Philosophiegeschichte. Nur gute Kenntnis und gute Orientierung in der Vergangenheit verschiedener philosophischer Konzeptionen kann uns davor bewahren, womöglich nur neue große Fehler zu machen. Sowas gilt jedoch auch und ganz besonders für unser gemeinsames, gesellschaftliches und politisches Zusammenleben. Wir dürfen – und sehr oft müssen – wir uns mit der Vergangenheit recht sorgfältig auseinandersetzen. Unser Ziel ist es jedoch nicht, immer nur zum Vergangenen zurückzuschauen oder gar, es nachzuahmen und neu zu beleben, sondern nur das Beste auszuwählen und sonst alles Schlimme, Dumme und Unnützige in das „Nicht-mehr-Seiende“ und damit zum Abfall der Geschichte fallen zu lassen. Gerade in diesem Sinne kann ich als Mitglied der protestantischen Minderheit, die in unserem Lande übriggeblieben ist, und später als aktiver Chartist sowohl an Beziehungen zu unseren ostdeutschen nichtopportunistischen Brüdern und Schwestern in der Kirche denken, als auch an deutsche Aktivisten der Menschenrechtsbewegungen. Wir verstanden einander und sahen klar, daß Zusammenarbeit eine bessere Perspektive darstellt als Konflikt und Kampf.

Jürgen Fuchs: Gerade das, was du jetzt gesagt hast, bringt mich dazu – weil Hutka so schön gesungen hat, und wir Wolf Biermann hier nicht haben, so daß wir ein bißchen in der Defensive sind – aber diese große Dimension des Literarischen und des Künstlerischen möchte ich doch mal kurz ansprechen. Er spricht von Irrtümern, Fehlern, und die Geschichte ist der Fehler. Eine Lieblingspointe innerhalb unserer Diskussion in der DDR war diese schöne Sentenz von Brecht, daß man dabei ist, seinen nächsten Irrtum vorzubereiten. Und was herauskommt, wissen wir nicht. Und z. B. ein Lied von Brecht, 1968 sehr viel aufgelegt: „Am Grunde der Moldau wandern die Steine) es liegen drei Kaiser begraben in Prag ( das Große bleibt groß nicht ( und klein nicht das Kleine ( Die Nacht hat zwölf Stunden ( dann kommt schon der Tag.“ Damit sind wir ja auch groß geworden, und diese, sagen wir: Injektion von Freiheit und von Liebe auch, die von Kunst kommt, haben wir aufgenommen. Und Biermann, Biermann ist ja nicht bloß eine Metapher gewesen. Dieses eine Lied von ihm, wo er den Prager Frühling besingt, hatte ja eine letzte Strophe, ein letztes Wort: „Das Land ist still“ – damit meinte er die DDR – „das Land ist still – noch.“ Und dieses „noch“ hat er zum Schluß sehr, sehr lange gedehnt und geschrieen, und das war unser Grundgefühl, das wir doch einlösen möchten. Und diese literarische Sprache, diese Sprache der Nicht-Lüge, ist etwas, was auch zu bewahren wäre, heute. Auch teilweise gegen die Medien.

Jiří Gruša: Bitte, klatschen ist erlaubt! Ich wollte das nicht unterbrechen. Dennoch, eine andere Frage. Die Frage nach Fehlern. Da gibt es diejenigen, die der „Fehler“, der „Irrtum“ traf, die Opfer, und andererseits diejenigen, die ihn begangen haben, auf der Ebene persönlichen Schadens, also die Täter. Manchmal stelle ich fest, daß ich dabei bin, alles zu verzeihen, und manchmal bin ich ganz wütend und sage: wie konnte es passieren, daß so ein Schuft da immer noch sitzt. Eine Frage an Sie, liebe Marianne.

Marianne Birthler: Die Spannung ist ja noch heute spürbar, und ich habe den Eindruck, daß die Ablehnung, die uns zuweilen entgegenschlägt, auch etwas damit zu tun hat, daß wir sozusagen die wandelnden Nachweise dafür sind, daß man zu DDR-Zeiten auch anders leben konnte. Und da tut sich eine Kluft auf. Ich vermute, daß es jenseits der tschechischen Grenze nicht viel anders aussieht. Für mich ist das natürlich auch eine Herausforderung. Wer arbeitet daran, diese Kluft zu überbrücken? Eine ganz andere Sache ist die, – da komme ich zurück auf Ihre Eingangsfrage –, warum wir das eigentlich getan haben. Für mich ist ein ganz starkes Motiv gewesen, vielleicht auch für andere, das Lebendigseinwollen. Es war doch nicht so, daß wir uns als Opfer betrachten, ich für mich kann das sowieso nicht sagen, ich bin verschont geblieben – aber auch andere, die unter Repressionen gelitten haben, haben diese Arbeit in der Opposition geleistet, weil es auch Spaß machte, weil es auch Lebendigkeit brachte. Wir hatten Zugang zu Informationen, wir führten einen spannenden Diskurs, wir waren am Leben. Und manchmal bin ich versucht zu fragen, ob nicht die anderen in einer ganz anderen Weise Opfer sind, weil sie sich diese Lebendigkeit nicht gegönnt haben. Jiří Gruša: Das ist wirklich eine interessante Perspektive. Mir passiert auch allzu oft, daß ich sage, eigentlich war ich kein Opfer. Also Opfer waren mehr diejenigen, die das Schweigen erlitten haben, denen wirklich alle Möglichkeiten, sich zu wehren, genommen wurden und die dennoch irgendwie mitgemacht haben. Das sind diejenigen, die gelitten haben. Es gibt aber auch viele, die nicht mehr unter uns weilen, und ich muß an diese Leute sehr oft denken. Denn wir haben Glück gehabt. Also noch einmal diese Frage: Für diejenigen, die es geschafft haben zu überleben, denn das war die erste Bedingung, physisch zu überleben, und das dann auch politisch irgendwie gemeistert haben, für die ist die Perspektive klar. Für diejenigen, die wirklich den Schaden erlitten haben, und die die Möglichkeit nicht haben, sich zu wehren, für die ist das Versöhnliche schwerer. Sollen wir hier nicht helfen? Wäre das nicht eine unserer Aufgaben, hier zu wirken? Nicht als Veteranen, sondern als diejenigen, die die Opfer versöhnen. Das ist eine ganz neue Aufgabe.

Václav Malý: Ich würde dieser Frage gerne noch etwas hinzufügen. Es kam nicht zu einer Säuberung der Gesellschaft als solcher. Unsere Journalisten waren durch eine wirtschaftliche Gruppe bezaubert, die an die Macht kam. Da hatten sie gute Gründe, und sie wollten gar nicht weiter denken. Das waren eigentlich Leute, die sich mit dem System arrangiert hatten. Und jedes Mitglied war in unserem Staat damals in verschiedenem Maße verantwortlich dafür, daß so etwas geschehen durfte. Ich bin zweimal in meinem Leben zu den Wahlen gegangen. Das war auch eine gewisse Taktik, doch ich betrachte das auch noch heute als ein Versagen. Aber ich kann das vor den anderen eingestehen. Offen gesagt, man sollte sich mehr an der Zukunft orientieren. Und es ist sehr gut, wenn wir in der Lage sind, eben in diese Perspektive zu schauen, auch was die Frage der Deutschen betrifft. Auf der anderen Seite: Leute, die sich nicht durch Buße befreien können, die sind dann in gewisser Hinsicht Opfer. Aber wir sollten jetzt die echten Opfer nicht bagatellisieren, die der 50er und der 70er Jahre, und es ist wirklich wahr, daß wir nach dem November 1989 natürlich gewisse Sachen vernachlässigt haben. Damals, da konnten mindestens, zwei, drei oder vier Zeugen gegen konkrete Staatssicherheitsleute auftreten und ihr Zeugnis abgeben. Es fehlt jetzt diese Gewißheit der Gerechtigkeit. Das hat nichts mit Rache und mit Rachegefühl zu tun. Nie würden wir die Bestrafung nur deshalb für jemand verlangen, weil er Mitglied der Kommunistischen Partei war.

Jiří Gruša: Petr Uhl, meine linke Rechte meldet sich, also das Wort hat Petr Uhl.

Petr Uhl: Mir geht es ähnlich wie Václav Malý. Mit meinen neun Jahren Knast, bin ich ein Mensch, der nie in der Kommunistischen Partei war, allerhöchstens bei den Jungen Pionieren. Und zu den Wahlen bin ich auch nur zweimal gegangen. Ich denke darüber nach, in welchem Maße ich mich als ein Opfer betrachten kann und inwiefern ich mitverantwortlich bin. Um solche Diskussionen zu führen, jeder für sich und in den Familien, brauchen wir unbedingt Informationen, und wir haben immer noch zu wenig Informationen über die Vergangenheit. Wir vernachlässigen sie in den Schulen, in der Publizistik, im Fernsehen. Ich verstehe, daß nicht alle Menschen daran interessiert sind. Ich denke aber auch, daß der Staat dieses unterstützen sollte: historische Untersuchungen und die Dokumentation der Verbrechen der Vergangenheit. Nicht nur der Verbrechen, sondern des ganzen Systems.

Auf der anderen Seite bin ich aber der Meinung, daß etwas unbedingt zu vermeiden ist, und das ist jedwede Rache. Ich begegne dem immer wieder, daß die Menschen der Meinung sind, daß eine Bereinigung der Vergangenheit, oder ihre Erläuterung oder Bewältigung, nur dann zu erreichen ist, wenn die Schuldigen bestraft werden. In dieser Hinsicht bin ich mit Václav Malý nicht einer Meinung.

Ich denke, daß man unbedingt um diese Dinge wissen muß, aber daß man in den meisten Fälle eine Bestrafung unterlassen sollte. Eine Bestrafung hat nur dann zu erfolgen, wenn das Strafgesetz eine Verfolgung dieser Menschen ermöglicht, und zwar aufgrund der Verbrechen, die sie nach dem damaligen Recht begangen haben und nur, wenn dies nicht bereits verjährt ist. Ich kann nicht mit Gesetzen einverstanden sein, wie z. B. dem Lustrationsgesetz (Verbot der Ausübung bestimmter Berufe, nachdem der Bewerber anhand der Akten der tschechoslowakischen Staatssicherheit überprüft und eine Mitarbeit mit dieser festgestellt wurde), das ein Strafgesetz oder ein regressives Gesetz ersetzt, und wo anstatt eines Gerichtes irgendein Register der Staatssicherheit darüber entscheidet, ob ein Mensch eine Funktion innehaben darf. Das halte ich für gegen das Grundgesetz gerichtet. Ich bin auch damit nicht einverstanden, daß retroaktiv das antikommunistische Gesetz3 die Verjährung aufgehoben hat, für Dinge, die bereits in der Vergangenheit verjährt waren, und wodurch Fristen, die bereits abgelaufen sind, erneut gelten. Mit einer Verlängerung der Verjährungsfristen würde ich einverstanden sein, aber ich kann nicht damit einverstanden sein, daß das, was nach damaligem tschechoslowakischem Recht gültig war, retroaktiv aufgehoben wurde. Ich sage es erneut, daß mir die Hälfte der Aufgaben des „Amtes für die Dokumentation und Verfolgung der Verbrechen des Kommunismus“, und zwar die Aufgaben, die die Verfolgung betreffen, nicht gefällt. Mit der Dokumentierung bin ich dagegen einverstanden. Aber allein schon der Name des Amtes, der das Wort Kommunismus beinhaltet, gefällt mir nicht. Das sage ich als ein Mensch, der – obwohl nie organisiert – dem Kommunismus immer nahestand: es war doch nicht der Kommunismus, der die Verbrechen begangen hat, die Verbrechen wurden im Namen dieser Utopie begangen …

Ich bevorzuge eine neutralere Bezeichnung. Das Wort Kommunismus benutzte man nicht im Jahre 1977, sondern erst nach dem November 1989. Wenigstens die eine Hälfte dieser Behörde, die sich mit der Dokumentierung beschäftigt, sollte ihre Tätigkeit verdoppeln, wenn nicht verzehnfachen, sollte ihr Bemühen verstärken, und der Staat sollte hierfür die entsprechenden Finanzmittel zur Verfügung stellen. Das ist meine Vorstellung. Und was die Bestrafung anbelangt, so bin ich auch dafür, daß verfolgt wird, was nicht verjährt ist, und da, wo es nach dem Strafgesetz möglich ist.

Arnold Vaatz: Im Grunde kann ich Herrn Uhl auch in dieser Frage zustimmen. Aber ich möchte vielleicht noch einige Ergänzungen anbringen: Zunächst scheint es mir nur dann richtig, von einem wirklichen Schritt in die Zukunft zu reden, wenn dieser Schritt nicht auf Lüge, Verdrängung und Selbstbetrug beruht. Wenn man das nämlich tut, dann wird einen die Vergangenheit, und zwar ihr unausgesprochener Teil, ewig in die Zukunft begleiten. Ich glaube, diesen Mut muß die Gesellschaft aufbringen, und es ist auch besonders an uns, an das, was Herr Präsident Havel eingangs gesagt hat, immer wieder zu erinnern. Zum zweiten ist es auch wichtig, daß wir die Begriffe „Bestrafung“ und „Rache“ ganz säuberlich voneinander trennen. In der Tat liegt die Gefahr gerade in den ersten Zeiten nach einem solchen Umbruch sehr nahe, daß eben auch Rache genommen wird. Aber das halte ich für den Anfang einer neuen Ungerechtigkeit, und aus dem Grunde sollte man sich dessen konsequent enthalten. Und überall, wo solche Gelüste aufkommen, ihnen auch widersprechen. Auf der anderen Seite halte ich es aber für wichtig, über die Amnestie von politisch motivierten Verbrechen, die tatsächlich strafrechtlich relevant sind, nicht eifriger und intensiver nachzudenken als über die Amnestie aller anderen Verbrechen auch. Ich halte es aus dem Grunde für wichtig, weil nicht die Quintessenz unserer Entwicklung, die wir in den letzten Jahren genommen haben, die sein darf, daß man sich hinterher sagen muß, es war richtig, sich in einer Diktatur anzupassen, sich ihren Zwängen unterzuordnen und sie mit auszuüben. Denn die dadurch erworbenen Besitzstände leben in der Demokratie fort und das heißt, wenn sich die Zeiten wieder einmal ändern, dann wirst du wieder kräftig mittun. Das genau darf nicht die Lehre der letzten Jahre sein, nach meiner Auffassung.

Jiří Gruša: Marianne Birthler meldete sich sofort. Sie haben das Wort.

Marianne Birthler: Es gibt wenig Strafe und auch wenig Rache in den ostdeutschen Ländern. Was uns stärker beschäftigt, ist die Frage, wie sehr wir unterstützen, daß Angehörige früherer Eliten oder sehr DDR-loyaler Gruppen jetzt wieder in sehr wichtigen, repräsentativen Funktionen sind. Oder auch in Multiplikationsfunktionen, beispielsweise in Schulen oder auch Redaktionen, die leider zu selten Gegenstand solcher Betrachtungen sind. Es gibt eine neuere Studie über deutsch-deutsche Eliten, in der zu lesen ist, daß ungefähr 50 % der Führungspositionen in Ostdeutschland, alles zusammengenommen, Wirtschaft, Politik, Redaktionen, Medien, besetzt sind von Angehörigen der früheren SED bzw. der Blockparteien. Das ist nicht wenig. Und ich denke, daß angesichts solcher Zahlen von einer Ausgrenzung wohl schwer die Rede sein kann. Wir haben es hier schon wieder mit einer neuen Legende zu tun. Mich würde an dieser Stelle sehr interessieren, wie Sie in Tschechien mit den alten Eliten umgehen. Ich hatte, als ich damals ein Ministerium aufgebaut habe, immerhin die Wahl. Neben den Fachleuten aus der DDR hatten wir die Möglichkeit, Fachleute aus den westdeutschen Bundesländern zu holen. Die Entscheidung war nicht immer einfach. Trotzdem – wie sind Sie mit diesem Problem umgegangen, in der Verwaltung, in Führungspositionen: auf Fachkompetenz angewiesen zu sein, die möglicherweise mehr als in vertretbarem Maße in frühere Machtverhältnisse verstrickt war?

Jiří Gruša: Lieber Kollege Hejdánek…

Ladislav Hejdánek: Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß die Suche nach den Hauptschuldigen sehr häufig kontraproduktiv sein kann, wenn man die Vergangenheit wirklich klären will. Enthüllung konkreter krimineller Schulden ist ein Rechts- und ein politisches Problem, und ich bin überzeugt, daß wir gerade deswegen auf beiden Seiten bestimmte Ämter und Behörden haben, die sich darum kümmern sollen. Es gibt jedoch Tendenzen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von wichtigeren Dingen abzulenken, indem man alle aufruft, an dieser Enthüllung mitzuwirken. Damit degeneriert oft die echte Schuldfrage zum Ersatzproblem, weil die Schuldigen immer unter den anderen gesucht werden. Die Schuld ist letzten Endes eine Frage eines sensitiven Gewissens, und deswegen kann und darf sie nicht einfach vergegenständlicht werden. Alle wirklichen Hauptfragen betreffen unsere Zukunft, nicht vordergründig das, was schon weg ist, was zur Vergangenheit gesunken ist. Nur was aus der Vergangenheit für die Zukunft wichtig ist, soll gebraucht werden, alles andere gehört höchstens in die Museen. Gut und sachgemäß zu wählen gehört zu unserer aktuellen Verantwortung. Gerade aus dieser Verantwortung sind unsere Protestbewegungen entstanden, mindestens bei vielen von uns auf beiden Seiten. Unser Problem damals war nicht nur und auch nicht in erster Reihe, die Schuldigen zu nennen, sondern etwas für unsere eigene menschliche Integrität zu tun. Wir mußten es tun, um unsere eigene Mitverantwortung für das Schlimme zu vermindern und abzugrenzen. Wir haben dafür jedoch niemals genug getan; wir waren und sind immer auch mitschuldig. Nur aus dieser Position dürfen wir legitim darüber sprechen, daß die breiten Schichten kollaboriert haben, und erwarten, daß sie es auch zugeben. Sonst bleibt die Enthüllung und Bestrafung krimineller Taten bloß ein Ritual ohne wirkliche moralische Wirkung.

Jürgen Fuchs: Das bringt mich auf die Frage, wer man selber ist und was man gemacht hat. Ich erinnere mich, um noch einmal die Gefängnissituation hochzuholen, an eine Situation, wo es mir schlecht ging in der Haft. Und ich eigentlich mit ihnen kollaborieren wollte. Ich weiß nicht genau, was mich bewahrt hat. Aber es war wahrscheinlich doch – es war ein Spiegel in der Zelle – dieser Blick in den Spiegel: willst du, sagte ich mir, weiterhin mit einem zusammenleben, der hier eingeknickt ist? Der hier mit ihnen zusammengearbeitet hat. Ich habe mich weggedreht von der Tür, wo der Spion war, und geweint. Geweint worüber? Weil ich mich für etwas entschieden hatte, das mir nicht so gut bekommen würde jetzt, ja? Die zweite Frage, „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ haben wir gerne gelesen, und die Frage wäre, was macht der Gemüsehändler jetzt? Was steht im Schaufenster des Gemüsehändlers heute? Steht darin vielleicht eine Werbeschrift für eine Gemüsefirma, daß die Tomaten, die jetzt verkauft werden, röter sind als jeder Stern rot gewesen ist…?

Jiří Gruša: … soll ich die Frage sofort weiterleiten an den Präsidenten?

Jürgen Fuchs: … es ist eine interessante Frage und es wäre interessant, eine Antwort zu erhalten. Oder welche Ideologie? Ist es die Ideologie des Dissidententums, die wir jetzt hineinstellen, oder was ist mit der selbstkritischen Infragestellung unserer Gemüsewaren?

Jiří Gruša: Also, lieber Václav Havel: Was hat unser Gemüsehändler heute im Schaufenster?

Václav Havel: Ich bin mir dessen sicher, daß er es zum Millionär gebracht hat.

Jürgen Fuchs: Darf ich kurz noch eines hinzufügen? Immer war es eine Funktion, und ist es auch heute, daß wir Tabus brechen. Und ich denke, daß ein Tabu schon besteht. Das Tabu ist diese sogenannte Erklärung. Was geistert zwischen diesen beiden Staaten herum? Eine Erklärung. Was ist überhaupt los? Hier kann ich nur sagen, ohne eine Erklärung abzugeben, ich erinnere nur an die kleine Situation des Stehens an der Straße. Ein deutscher Schüler, ich stehe an der Straße und Panzer fahren vorbei, zum zweiten Mal eine Besetzung mit deutscher Hilfe. Und ich habe eine Familie, einige waren Mitglieder der deutschen Wehrmacht, und was ist jetzt? Und was ist wirklich jetzt? Diese Art des Umgehens dieser Frage, das wäre für mich eine neue Ideologiebildung, und wenn ich dazu Stellung nehmen soll, würde ich sagen: ich würde erinnern an all das, was an Gewalt und Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen da ist. Auf eines, würde ich vorschlagen, müßten wir uns einigen. Die Realität ist die Realität. Als wir zusammen mit Bundespräsident Herzog in Paris waren, in der jüdischen Gemeinde, sagte der Rabbiner zu uns: „Es ist schrecklich, daß wir Holocaust-Verfolgte bis zum Jahre 1996 immer noch in der öffentlichen Wahrnehmung darum kämpfen müssen, daß geschehen ist, was geschehen ist.“ Und wenn dieses angezweifelt wird, daß Deutschland besetzt hat, daß gequält wurde, daß auch sudentendeutsche Sozialdemokraten und jüdische Mitbürger kaputtgemacht wurden, wenn dieses nicht mit erinnert wird jetzt, will ich keine Rechnungen über Häuser und Entschädigung haben. Ja? Ich will aber gemeinsam sprechen über Menschenrechtsverletzungen 1945, 1946, von Roten Garden begangen, von anderem, was gewesen ist. Aber ich will die Reihenfolge. Meine Großmutter sagte an dieser Stelle: Wer hat angefangen? Und gleichzeitig will ich in eine Freundschaft, eine Versöhnung gehen, in ein Miteinander. Es ist genug, es darf nicht aufgerechnet werden, aber die Realität soll da sein. Ich plädiere für Freundschaft, und nicht für dieses verfluchte Aufrechnen auf der Haben-Seite.

Jiří Gruša: Haben wir eine Aufgabe, die das „alte Veteranentum“ übersteigt oder überschreitet? Hier habe ich gehört, wir könnten das Reflexive weiter betreiben und nicht das Restaurative. Hier habe ich auf dem Gebiet der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit die Ehrfurcht vor den Opfern, zugleich aber eine klare, gegenwartsbezogene Politik. Sind das die Aufgaben für die „alten Veteranen“ aus der Zeit des Dissidententums? Das ist eine Frage an Ladislav Hejdánek.

Ladislav Hejdánek: Ich höre langsam auf, noch weiter geduldig zuzuhören, wie wir als „alte Veteranen“ gesehen werden. Ich bin hier ja wahrscheinlich der Älteste, ohne Zweifel, aber es fällt mir gar nicht ein, mich als Veteran zu fühlen. Schlicht und einfach, wenn uns unsere Gesellschaft ins Museum abschieben will, dann liegt es an uns, dagegen Widerstand zu leisten. Oft hat man darüber gesprochen, daß die Charta 77 in ihrem Programm ziemlich arm war. Es handelte sich eigentlich um keine Organisation, keine Bewegung – die Charta konnte und kann sich nicht bewegen, sie ist nur eine Position in zwei Punkten: Orientierung an Menschenrechten und Legalität. Gerade deswegen konnte und kann sie noch heute und hoffentlich auch in der Zukunft eine Basis für ganz unterschiedlich orientierte Bürger, ja sogar Politiker, sein, so wie es möglich war in dem ersten Jahrzehnt ihrer Existenz. Und noch was: eine naturrechtliche Interpretation der Menschenrechte ist philosophisch falsch und unakzeptierbar. Wir haben jedoch noch keine andere breit akzeptierbare Deutung zur Verfügung. So bleibt vor uns auch eine theoretische Aufgabe: den Gedanken der Menschenrechte neu und besser zu denken. Auch das hat inmitten unserer anderen Aktivitäten schon vor zwanzig Jahren begonnen, und auch hier müssen wir weitergehen.

Jiří Gruša: Václav Benda hat sich gemeldet, tut mir leid, daß ich das übersehen konnte. Da steht er.

Václav Benda: Ich würde schrecklich gern mit vielem polemisieren, was hier gesagt wurde, ich werde wenigstens einige Dinge sagen. Weil hier auch einige Male das entsprechende Gesetz zitiert wurde und auch das „Amt für die Dokumentation und Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus“, möchte ich hier einige Dinge ins Lot bringen.

Erstens: Wir benutzen auf keinen Fall retroaktiv irgendein Gesetz. Im Gegensatz zu Deutschland verfolgen wir die Tötungen und Ermordungen an den Grenzen nur dann, wenn auf fremdem Territorium getötet oder gemordet wurde auf dem österreichischen oder deutschen, also Tötungen, die absolut auch nach dem damaligen Gesetz strafbar waren, oder umgekehrt Tötungen, die im Inland geschahen. Wir verfolgen diese Straftaten natürlich nach den damals geltenden Gesetzen, sofern die jetzigen Gesetze nicht günstiger sind. Zum Beispiel existiert in unserer Republik die Todesstrafe nicht mehr. Was Herr Kollege Uhl über die Verjährung sagte – bei uns hat man keine Verjährung aufgehoben. Man benutzte eine Bestimmung, die schon immer in unseren Gesetzen über die objektiven Hindernisse für den Lauf der Verjährungsfrist war. Das Gesetz aus dem Jahr 1993 stellte nur fest, daß die Existenz des kommunistischen Regimes in einer Beziehung zu bestimmten Typen des Verbrechens stand, einfachheitshalber sagen wir: der politischen Verbrechen. Dieses war also ein Verjährungs-Hindernis, somit begann die Verjährungsfrist ganz normal mit dem 20. Dezember 1989. Damit verjährten auch sehr schwerwiegende Verbrechen, die während der kommunistischen Ära begangen wurden, bis zum 20. Dezember 1994, und diese verfolgen wir selbstverständlich nicht. Das ist die erste Sache.

Zweitens, bedenken Sie noch folgendes: Herr Hejdánek hat es hier teilweise angedeutet. Ich bin der Chef einer Staatsbehörde, die einmalig in den ehemaligen sozialistischen Ländern ist. Unser Amt hat dieselbe Vollmacht wie die Untersuchungsorgane der Polizei der Tschechischen Republik und es steht mir nicht zu, über Schuld und Unschuld zu philosophieren. Solange ich nicht zurücktrete, solange ich im Amt bleibe, bin ich und meine Mitarbeiter per Gesetz verpflichtet, Straftaten, von denen wir erfahren, zu verfolgen. Sollten wir dies nicht tun, so begehen wir selbst eine Straftat. Wir können also nicht darüber nachdenken, wo die göttliche und wo die weltliche oder die philosophische Gerechtigkeit liegt. Ich bin ein ordentliches Organ der weltlichen Gerechtigkeit und es steht mir nicht zu, darüber nachzudenken, ob ich diese Verbrechen bestrafen soll und jene nicht.

Jiří Gruša: Herr Benda ist unser Herr Gauck. Da meldet sich der Kollege Prečan, der Leiter des Dokumentationszentrums in Scheinfeld ist.

Vilém Prečan: Herren Präsidenten, meine Damen und Herren. Ich möchte mich hier vor allen Dingen dem anschließen, was der Kollege Hejdánek gesagt hat, daß die breiten Massen kein Recht haben, oder daß es eine Sache ist, die sie nicht interessieren sollte, daß es eine Sache von Behörden ist. Die Rechtsordnung erfordert ebenso die moralische Erneuerung der Gesellschaft, erfordert die Gewißheit einer elementaren Gerechtigkeit. Das muß jeder Mensch fühlen, daß Schuld und Verantwortung benannt werden und eventuell bestraft werden, auf welche Weise auch immer bestraft werden, und daß die Opfer Genugtuung erhalten müssen. Wie die Strafe aussehen wird, ob sie nur symbolisch ist oder eine andere sein wird, das ist eine andere Sache. Das kommt dem Gericht zu. Aber diesem Bedürfnis nach Gerechtigkeit muß Genüge getan werden. Eine weitere Frage: wie wir alle daran sind, die wir diese Zeit durchlebt haben, und eine größere oder kleinere Zeit der Verantwortung, und das, was wir getan haben, was wir vielleicht nicht hätten tun sollen, oder nicht das, was unsere menschliche Pflicht war. Die Vergangenheit hat die Eigenschaft, daß sie sich nicht aufheben läßt. Sie ist Bestandteil eines jeden menschlichen Individuums. Sie kann eine offene Wunde sein, sie kann ein Trauma sein oder sie kann auch ein Prügel sein, mit dem sich politische Gegner im politischen Kampf schlagen. Damit sie dieses alles nicht ist, und daß man trotzdem mit dieser Vergangenheit leben kann, müssen wir uns bemühen, sie zu verstehen, uns mit ihr zu versöhnen, damit sie nicht wie ein Bumerang zurück an unseren Kopf kommt. Und wir müssen versuchen, das zu tun, weiterhin mit dieser Vergangenheit zu leben, und zwar als Menschen, als Menschen mit einem offenen Schicksal und einem offenen Leben. Diese Debatte hier, auch wenn es hier eventuell Beschwerden darüber gibt, was wir versäumt haben, was wir nicht getan haben, oder was wir tun sollten, mich stimmt diese Debatte sehr optimistisch, denn sie bedeutet, daß wir uns bewußt sind, daß man unter die Vergangenheit keinen Strich ziehen kann, daß wir uns mit ihr befassen müssen. Und als Historiker, der etwas darüber weiß, muß ich sagen: es ist ein Prozeß. Hier wurde gesagt, daß es die Befürchtung gab, und zwar zu Recht, daß die Bestrafung oder die Rache an Schuldigen nicht eine Kettenreaktion hervorruft. Das gerade haben die Dissidenten und Chartisten befürchtet. Das hätte auch zur Desintegration der Gesellschaft geführt. Das muß man vernünftig machen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Jiří Gruša: Danke. Lieber Schorlemmer, wolltest du was sagen?

Friedrich Schorlemmer: Ich habe manchmal den Eindruck, daß wir falsche Gegensätze oder falsche Alternativen aufmachen. Ich meine, daß man keinen Gegensatz zwischen „Aufklärung“ über die Vergangenheit und „Aussöhnung“ machen kann und sollte. Vielmehr sollten wir fragen: Wozu mache ich die Aufklärung? Hilft diese Aufklärung schließlich bei der inneren Aussöhnung? Das hieße praktisch, daß man vor allem nach den Funktionsmechanismen fragt: Wie hat das System funktioniert? Wie sind Menschen da hineingekommen oder hineingebracht worden? Das heißt, mehr Systemanalyse zu machen, und bei der Personalisierung so zurückhaltend zu sein, daß nicht Aufklärung über Denunziation selber zur Denunziation wird. Es wäre wichtig, daß man Aufklärung und Aussöhnung nicht in Gegensatz bringt, indem man denen, die bereit waren, über ihre und unsere Vergangenheit ehrlich zu reflektieren und sich selber zu wandeln, die Chance läßt und gibt, die demokratische Gesellschaft mitzugestalten. Ich habe in der Debatte häufig den Eindruck, daß dies als Gegensatz verstanden wird.

Ein zweiter – scheinbarer – Gegensatz: Viele in der DDR sagen jetzt: „Was nützt uns die Freiheit, wenn wir keine Arbeitsplätze haben?“ Sie fragen uns mit Recht: „Was macht ihr denn, nachdem die bürgerlichen Freiheitsrechte da sind, mit den sozialen?“ Wir Dissidenten haben uns in den Jahren der DDR-Zeit dafür eingesetzt, daß es zwischen sozialen und bürgerlichen Menschenrechten eine Einheit gibt, keine Vor- und Nachordnung. Eine unsere Aufgaben besteht heute darin, dies festzuhalten.

Auch unsere Zukunftsaufgaben stehen nicht in einem Gegensatz zur Aufklärung über unsere Vergangenheit, die uns häufig noch tief anhängt oder schwer an uns hängt, weil noch soviel Vergeblichkeit oder Verletzung da ist. Die Aufgabe besteht darin, daß wir (nach einem Satz von Tschechow) vor einem zweiten Selbstbefreiungsakt stehen. „Man muß den Sklaven tropfenweise aus sich herausdrücken.“ Das haben wir getan zur Zeit, als Unfreiheit war.

Václav Malý sagte, „als wir aufhörten zu taktieren“. Das meint: Unter den Bedingungen der Unfreiheit den Sklaven aus sich herauszudrücken. Jetzt stehen wir vor der keineswegs leichteren Aufgabe, den Feind aus unserem Inneren herauszudrücken, der sich bisweilen tiefer in uns eingenistet hat, als wir das selber wahrnehmen wollen. Nachdem der Feind, der uns die äußere Freiheit nahm, weg ist und wir äußerlich frei sind, bleibt für uns die Aufgabe, von unserem Feind auch innerlich frei zu werden. Wir tragen ihn noch immer mit uns und müssen aufhören, die Kämpfe von früher – endlos virtuell – weiterzuführen. Lassen wir den Feind laufen … So werden wir erst frei.

Jiří Gruša: Dankeschön. Da ist jetzt eine Wortmeldung.

Freya Klier: Ich habe eine Frage an die tschechischen Freunde. Es ist aber zugleich von mir aus eine Antwort auf Herrn Schorlemmer, denn ich habe da andere Positionen als er, aus meiner Erfahrung im Umgang mit Menschen aus der Ex-DDR. Ich bin sehr viel in Schulen, ich spreche sehr viel mit Lehrern, und meine Erfahrung ist auf dem Gebiet – das würde ich ausweiten auf andere Gebiete – daß eigentlich von der ersten Stunde an, von der Stunde des Umbruchs an, ein Machtkampf stattfindet. Diese alten, ich sag jetzt mal, alten „Eliten“, die schon äußerlich so aussahen, wie sich gezeigt hat, daß sie versucht haben, alle Parteispitzen zu besetzen. Ich will nur in zwei Sätzen beschreiben, wie das im Schulbereich aussieht: Es ist kaum möglich, einen Gedanken der Aufklärung, der wirklichen Aufklärung, in eine Schule hineinzutragen, weil die Lehrer, die meisten Lehrer, natürlich aus alter Zeit sind und davon geprägt. Es gab keinen Austausch an den Schulen, höchstens einen räumlichen Wechsel, man geht einfach woanders hin. Und es findet so eine Art Klassenkampf statt in den Schulen, weil die Lehrer ganz bewußt eine Verklärung der Vergangenheit vornehmen. Wenn ich drin bin, ich spreche mit Schülern, und erzähle etwa, was passiert ist in diesem Land DDR, nur Geschichten von einzelnen Personen – sie glauben es nicht. Falls sie nicht Eltern haben, die ihnen das erzählt haben. Sie sagen oftmals: Wir lassen uns unsere schöne DDR nicht kaputtmachen. D. h., sie waren damals Kinder und reproduzieren eigentlich das Verhalten zum großen Teil von Eltern, zum größeren von Lehrern, so daß wir uns heute gezwungen sehen, Initiativen zu ergreifen, wieder Organisationen zu schaffen, um Aufklärung nachzuholen. Und das bestimmt unsere Position. Das ist keine Frage von Juristerei, wird jemand bestraft oder nicht, sondern wir müssen wieder – deswegen stört mich etwas, wenn hier von Vergangenheit gesprochen wird – wir müssen wieder Formen finden, wie wir uns einmischen, wie wir hineingehen und versuchen, zu verhindern, daß jetzt die nächste Generation dran ist. Mich würde interessieren, wie man in Tschechien mit diesem Problem umgeht.

Jiří Gruša: Danke.

Marianne Birthler: Ich kann ganz gut anschließen. Diese Beobachtung ist oft zu machen, besonders in den Berufsgruppen, die zu den besonders angepaßten gehörten. In den Schulen wird das besonders deutlich. Ich brauche nicht zu erwähnen, daß es immer auch positive Beispiele gibt. Mir geht das aber ein bißchen zu schnell, Friedrich Schorlemmer. Falls ich dich richtig verstanden habe, reagierst du auf die Kritik an solchen Verhältnissen mit der Rede von Denunziation der Denunziation. Ich habe damit ein Problem und frage, ob das nicht wiederum eine Denunziation ist, und zwar derer, die nachdrücklich fragen: was ist hier los, warum verweigert ihr euch der Wahrheit, warum tragt ihr nicht dazu bei, daß die nächste Generation wirklich einen weiteren Blick bekommt als ihr ihn je gehabt habt? Dieses nachdrückliche Fragen, diese Anforderung insbesondere an Lehrkräfte, ist doch keine Denunziation. An einer anderen Stelle aber kann ich mich, glaube ich, positiv auf dich beziehen. Ich denke, daß unsere heftige Forderung danach, die Augen vor der Vergangenheit nicht zu verschließen, wirksamer wäre, wenn wir vielleicht in einer weiteren zweistündigen Diskussion in diesem Rahmen miteinander diskutieren würden, was vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen mögliche Antworten auf aktuelle Herausforderungen sind. Was taugt unsere Tradition der Bürgerrechtler für das, was wir heute zu erledigen haben? Wir sind ja nicht im gelobten Land angekommen. Da gibt es die soziale Herausforderung, die ökologische Herausforderung, die Frage nach der Demokratieentwicklung, die sich sehr scharf stellt, und die wir manchmal zu Unrecht etwas gelassen ansehen, weil wir uns ja vereinigt haben mit dem Westteil unseres Landes, und dabei leicht übersehen, daß Demokratie, demokratisches Bewußtsein, im Osten unseres Landes noch ein sehr, sehr fragiles Gebilde ist. All das sind aktuelle Herausforderungen, die nichts mit Vergangenheitsfixierung zu tun haben. Das wäre eine spannende Debatte. Wenn wir sie laut und deutlich führen würden, hätte womöglich unsere Forderung, genau auf die Vergangenheit zu sehen, auch eine andere Klangfarbe in der Öffentlichkeit.

Udo Haschke: Ich möchte unbedingt anknüpfen an die letzten Beiträge. Ich bin 1988 aus dem Schuldienst gegangen, weil ich es nicht mehr verantworten konnte. Ich bin seit einem Jahr wieder im Schuldienst und ich stehe vor einem wahnsinnigen Phänomen kollektiver Verdrängung. Geschichte nach 1945 findet nicht statt im Unterricht in unseren Schulen. Man hält sich in der Antike auf, da geht es leicht. Ich meine, Umgang mit unserem Erbe, mit unserer Erfahrung, Frau Birthler, das muß es heißen, in dieser Situation den Finger draufzulegen und zu fordern und zu sagen, so wie es Jürgen Fuchs gesagt hat: registriert wenigstens bitte, was geschehen ist. Registriert es bitte wenigstens und redet es nicht runter. Redet nicht so, als ob nichts geschehen sei und wir nahtlos zur Tagesordnung übergehen könnten. Zu welcher Tagesordnung denn? Das wird doch nur ein Den-Tag-Abarbeiten, irgendwie und ohne Sinn und Verstand. Ich sage es deshalb so, weil es auch eine Frage ist, die viele unserer Freunde – ich sage es jetzt als Lehrerkollege – auch in den westlichen Ländern mit beachten sollten. Da ist ja 1989 bei denen auch eine Illusion geplatzt. Und wir müssen sagen: begreift endlich, es war eine Illusion. So geht es nicht, wie es bei uns vierzig Jahre gedauert hat. Ich denke, ein ganz großes Betätigungsfeld sind unsere Schulen, ist unsere Jugend. Wir müssen, und deshalb bin ich froh, daß wir es heute mit tschechischen Freunden können, wir müssen miteinander reden, diese Erfahrungen lebendig werden lassen, damit sie nicht einfach verschwinden.

Jiří Gruša: Ich bedanke mich sehr. Jetzt schießen die Hände in die Luft. Aber die Zeit wird immer geringer. Noch zwei Wortmeldungen, und dann einige Worte zum Schluß hier. Also der Kollege Šabata:

Jaroslav Šabata: Herren Präsidenten, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werde versuchen, eine kleine Reprise des „Prager Aufrufs“ zu wagen, was seine innere Ladung angeht, das heißt, den Versuch zu unternehmen, ein gewisses Tabu zu berühren. Ich bin jedenfalls überzeugt, daß wir eine Gelegenheit verpassen würden, wenn gerade hier und heute nicht wiederholt würde, was im Februar dieses Jahres in Brünn auch ein Dissident und auch ein Präsident, kein tschechischer oder deutscher, sondern ein ungarischer – Arpád Göncz – erklärte: daß sein Volk keinen Kapitalismus erwartet hat, sondern die Demokratie.

Der Satz ist mit einem gewissen Widerspruch behaftet, die Begriffe Kapitalismus und Demokratie sind nicht gleichgeordnet, worum es geht, ist selbstverständlich der Sinn des Satzes. Wenn hier über Verdrängungen gesprochen wird, über Lüge und Selbstbetrug, dann sollte man vielleicht daran denken, daß wir uns so lange täuschen werden, bis wir nicht im klaren sein werden, daß unser Widerstand gegen den realen Sozialismus nicht durch eine Vision der bloßen Restauration des Kapitalismus beseelt wurde. Mit anderen Worten, daß wir zu einer demokratischen Wende, zu einem demokratischen Umsturz im tiefsten Sinne strebten, also sozusagen zu einer neodemokratischen und nicht zu einer neokonservativen und neoliberalen Revolution.

Mit dieser Voraussetzung bewege ich mich im Feld der Auseinandersetzung mit der Frage des Charakters des tiefgreifenden weltgeschichtlichen Umbruchs, in dem wir stecken. Diese Frage, die Frage der Revolution und Restauration, der Revolution, die zugleich eine Restauration ist, wurde hier schon, wohlgemerkt, aufgegriffen.

Die Bedeutung der Frage möchte ich dadurch unterstreichen, daß ich zu dem eigentlichen politischen Ursprung des „Prager Appells“ zurückkomme, zu einem längst vergessenen und)oder verdrängten Ereignis. Der hier anwesende Václav Benda, mein Gegenpart auf der rechten Seite, ahnt vielleicht, woran ich jetzt denke, denn ich sagte schon mehrmals, daß er der eigentliche Initiator, der Auslöser des „Prager Aufrufs“ war, ohne daß er sich damals dessen bewußt gewesen wäre. Nämlich: als er im Frühling 1984 im Amt des Sprechers der Charta 77 die europäische antinukleare Friedensbewegung als unerwünschten Partner der Charta bezeichnete und folgerichtig der END, der European Nuclear Disarmament, den Rücken zeigte und so den Beifall von Ronald Reagan erntete, kam es zu einem kleinen Krach. So kam die Zeit des Nachdenkens über unsere gemeinsamen Ziele, die Zeit der Bearbeitung des Traumes von der Einheit Europas in Freiheit, der Vision, in der sich sowohl die Linken als auch die christlich geprägten Konservativen finden konnten. Und so bekam auch die gängige Idee der Überwindung der Blöcke, die von der END, vor allem von Professor Thompson propagiert wurde, einen neuen Akzent: wenn wir wirklich zur Abschaffung der Doppelhegemonie der Supermächte gelangen wollen, wenn die Einheit Europas unser ernstes Anliegen sein soll, müssen wir die Frage der deutschen Einheit als eine Grundfrage Europas, als ein Vehikel einer wünschenswerten Gesamtentwicklung Europas betrachten, kurz gesagt: wir dürfen die Einheit Deutschlands nicht als ein gefährliches Gespenst wahrnehmen.

So hat eine zeitgemäße Erneuerung der universalistischen Perspektive, die Immanuel Kant im Jahre 1775 in seinem berühmten Aufsatz „Vom ewigen Frieden“ skizziert hat, allmählich begonnen. Denn die Peripetien der Moderne nach Kant, sind Peripetien dieser Perspektive. So wurde sie zum Ausgangspunkt einer gemeinsamen Sprache der neuen demokratischen Opposition. Anders ging es in den achtziger Jahren nicht mehr weiter. Stille Voraussetzung dieser Perspektive war, daß der Totalitarismus ein zugespitztes Bild der westlichen Zivilisation ist, daß man zwar zu einer Restauration der Marktwirtschaft gelangen muß, aber daß das nicht heißt, daß die Geschichte mit dem heutigen Zustand der Dinge, sozusagen mit dem Kapitalismus, zu Ende geht. Das und jenes deutet an, daß dieser stille Konsensus, diese stille neodemokratische Koalition in eine bewußte reift. Nicht nur in unseren beiden Ländern …

Jiří Gruša: Danke, Herr Šabata. Wir haben nur noch wenig Zeit. Ich entschuldige mich bei denen, die sich zu Wort gemeldet haben. Das Protokoll ist ja leider, mein Lieber (an Manfred Wilke gerichtet), streng, aber ich stehe dir gerne zur Verfügung, in der Botschaft oder in Prag. Also noch einmal besten Dank, lieber Herr Bundespräsident, wir sind gerne gekommen. Besten Dank auch, lieber Václav Havel, für die Einladung der tschechischen Dissidenten. Ich meine, wir haben uns nicht zum letztenmal getroffen. Vielleicht könnten wir uns revanchieren als echte tschechische „Revanchisten“ mit dem wunderschönen Ambiente der Prager Burg zu einer ähnlichen Diskussion in einem Jahr. Falls Sie also das Angebot annehmen…

Noch einmal allen schönen Dank, allen Teilnehmern hier, und diejenigen, die nicht sagen konnten, was sie sagen wollten, können mich anschreiben.

1 Siehe Anhang

2Jiří Dienstbier

3Das „Gesetz über den illegalen Charakter des Kommunistischen Regimes und über den Widerstand gegen dieses Regime“ vom Juli 1993 verurteilt die Kommunistische Partei zwischen 1948-1989 als „verbrecherische und verwerfliche Organisation“, ohne z. B. zwischen Stalin-Anhängern und Reformkommunisten des Prager Frühlings zu unterscheiden.