Gehört die Charta 77 in ein Museum?
docx | pdf | html ◆ článek, německy, vznik: 1997
  • in: Horch und Guck, 6, 1997, č. 21, str. 1–3 (vydáno jako „Rede zur Festsitzung des Wissenschaftsrates der Karls-Universität aus Anlass des 20. Jahrestages der Entstehung der Charta 77“)
  • in: Doris Liebermann – Jürgen Fuchs – Vlasta Wallat (vyd.), Dissidenten, Präsidenten und Gemüsehändler. Tschechische und ostdeutsche Dissidenten 1968–1998, Essen: Klartext, 1998, str. 198–201

Gehört die Charta 77 in ein Museum? [1997]

Die Charta 77 ist ein kompliziertes Phänomen, dessen Konturen noch in mancher Hinsicht nicht gebührend scharf umrissen wurden, manchmal werden sie sogar mit Absicht unscharf gehalten. So ergeht es im übrigen einem jeden historischen Element; noch lange, nachdem ein Ereignis zur Geschichte wurde, agiert es noch weiter, und zwar so lange, bis es durch die Historiker auf bestimmte Art und Weise und immer nur temporär hinsichtlich seiner Form und seiner Bedeutung fixiert wird. Kurz gesagt: in die zum Bewußtsein werdende und geschriebene Geschichte geht kein Ereignis als ein Faktum ein, sondern als eine Interpretation – und dies hängt in großem Maße davon ab, wie die Gesellschaft, die Menschen, auf dieses Ereignis reagieren, wie sie sich darauf beziehen oder nicht beziehen, wie ernst sie es nehmen oder in welchem Maße sie es vergessen. In diesem Sinne sprechen wir manchmal über die „zweite Geschichte“ eines solchen Ereignisses oder irgendeines Werkes. Wir könnten sagen, daß die historischen Taten und Ereignisse wie Samen sind, die auf verschiedene Stellen und unter verschiedenen Bedingungen fallen, manchmal gehen sie auf, manchmal nicht.

Die Charta 77 ist so eine Tat, so ein Ereignis, welches nach etwa dreizehn Lebensjahren endete, damit ihr „zweites Leben“, ihre „zweite Geschichte“ in den Reaktionen und Anbindungen der heutigen und der künftigen Mitglieder unserer Gesellschaft beginnen kann.

Wir wissen alle, daß diese zweite Geschichte der Charta 77 recht unglücklich anfing und daß sie nach wie vor höchst problematisch ist. Daran tragen zum großen Teil die „Chartisten“ selbst Schuld. In der veränderten Situation begann sich eine ganze Reihe der Signatare nicht nur politisch, sondern auch menschlich falsch zu verhalten, sie versündigte sich des öfteren gegen die Grundsätze dieses Dokuments und gegen einen gewissen Stil der Mitarbeit, der sich innerhalb der Charta während ihrer Wirkungsjahre mehr oder weniger eingestellt hatte. Die professionelle Politik hatte ihnen öfters die Köpfe verdreht. Auf der anderen Seite erscheint – was psychologisch durchaus zu verstehen ist – in zunehmendem Maße eine Aversion gegen die Chartisten, ähnlich der Aversion gegen die Emigranten. Viel bedeutender allerdings waren die Veränderungen der politischen Gesamtsituation nach dem November 1989, die ich mir erlaube, als den Übergang von der samtenen Revolution zur rhetorisch harten, in Wirklichkeit aber relativ weichen Restauration zu bezeichnen. Wenn man die Chartisten selbst ausnimmt, so kann man sagen, daß man über die Charta meistens entweder schwieg oder sie seichter offizieller oder halboffizieller Kritik unterzog. Damit der Kontrast deutlich wird, erwähne ich hier das einzige Buch über die Charta, das mehr als 360 Seiten umfaßt, und von dem in Toronto lebenden Historiker Gordon Skilling vier Jahre nach ihrer Entstehung publiziert wurde. Da wußte man noch gar nicht, was sich acht Jahre später ereignen würde. Dies nur am Rande. Um es deutlich zu machen, beschränke ich mich hier nur auf eine einzige, wenn auch heute nicht besonders geschätzte Seite dieser Sache, und zwar darum, weil sie eine nicht unbedeutende Rolle für die heutige und die künftige Orientierung der intellektuellen Kreise und insbesondere der Lehrer an den Hochschulen spielt, damit auch an erster Stelle für uns an der Karls-Universität. In der Charta war von Anfang an die Zusammenarbeit mit den sogenannten Reformkommunisten verankert. Einer der drei Sprecher vertrat immer diesen bedeutenden Teil der Signatare, der erste war Jiří Hájek, der zweite Jaroslav Šabata, der dritte Jiří Dienstbier usw.

Rudolf Battěk meinte kürzlich im Fernsehen, daß das eine durch die Umstände erzwungene Zusammenarbeit war. Ich bin der Meinung, daß das eine völlig irrige, nur subjektive Einschätzung ist. Im Brief von Herrn Rektor Malý ist die Rede von der Charta 77, „die den Prozeß der Demokratisierung und der Erneuerung der Menschenrechte in der Tschechoslowakei eröffnete“. Auch dies ist nicht ganz korrekt. Diesen Prozeß begannen vor allem die Reformkommunisten in den 60er Jahren, und dies viel effektiver und politisch wirksamer als es die Chartisten hätten tun können. Husáks „Normalisierung“ begann mit dem Ausschluß von fast einer halben Million Kommunisten aus der Partei. Zu der damaligen Zeit war es ein riesiges Potential, eine gesellschaftliche und politische Kraft. Es ist ein anderes Problem, welches nicht abseits der Einschätzung der Gesamtpopulation zu sehen ist, daß sich diese Kraft später nicht durchsetzte, sondern mit der Grauzone oder mit den Normalisierungsopportunisten verschmolz. Das Bürgerforum setzte die Mitarbeit mit den exkommunistischen Signataren vorerst fort, später aber kam es zur scharfen Trennung und harten Attacken gegen sie. Ich beabsichtige nicht im geringsten, abzustreiten, daß ein Teil dieser Schuld den ExKommunisten selbst zuzuschreiben ist, ihrem politischen Agieren. Das ist aber nur eine, die weniger wichtige Seite dieses Problems. Viel wichtiger ist eben der Aspekt der langfristigen ideologischen Orientierung.

In den 60er Jahren kam es bei uns (nach westlichem Vorbild) zu ersten Kontakten und Gesprächen zwischen Marxisten und Christen. Auf dem Boden unserer Universität wurde dieses Gespräch institutionalisiert in einem eigenartigen, teils offenen Seminar von Milan Machovec an der Philosophischen Fakultät, und noch etwas früher im Seminar in Jircháře auf dem Boden der ehemaligen theologischen Comenius-Fakultät, die erst vor sieben Jahren in die Karls-Universität inkorporiert wurde. Dort handelt es sich um einen ökumenischen Dialog, bei dem die Hauptpartner Protestanten und Katholiken waren, als Vortragende wurden aber auch Marxisten eingeladen. Neben diesen Kontakten nahmen auch individuelle Kontakte zwischen Kommunisten und Nichtkommunisten auf verschiedensten Ebenen zu. Spannungen und Konflikte zwischen einigen bedeutenden Marxisten (insbesondere z. B. vom Philosophischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften) auf der einen und zwischen dem Parteiapparat auf der anderen Seite begannen allerdings schon bald nach dem XX. Parteitag der sowjetischen Kommunisten. Diese Tatsachen wurden nicht nur vergessen, sondern auch absichtlich aus dem allgemeinen Bewußtsein gelöscht: die Kommunisten beiderlei Art wurden in einen Sack gesteckt und zu ihnen wurden – in der jetzigen Rhetorik werden es noch heute – auch die Sozialdemokraten gepackt.

Die Restaurationsideologie gewöhnte sich an, folgende Formel zu benutzen: dies alles war schon einmal da. Selbst das Wort „Sozialismus“ wird entehrt, obwohl so etwas im Widerspruch zur Situation in Europa und in der ganzen Welt steht.

So frage ich mich selbst: was ist heute eigentlich in den Massenmedien wie auch auf vielen anderen Plattformen los, unter anderem auch heute bei diesem wissenschaftlichen Rat, daß man sich in so unerwartetem Umfang an die Charta erinnert, daß man so viel über sie redet und daß sie so feierlich bedacht wird?

Ist dies der Ausdruck irgendeiner politischen oder kulturpolitischen Veränderung, oder bedeutet es, daß man über die Charta sprechen kann, weil sie schon definitiv der Vergangenheit angehört und heute hier bereits andere, gefährlichere Gegner angetreten sind? Ist das Flair der Charta bzw. ihrer Hauptgedanken bereits definitiv verflogen und passé? Ich nehme an, daß hier von mir weder eine objektive Auslegung der Begebenheiten von vor 20 Jahren noch chartistisches Selbstlob erwartet wird. Ich nehme an, daß es hier meine Aufgabe ist, auf diese letzte Frage zu antworten: Hat die Charta 77 die Fähigkeit, noch heute in irgendeiner Hinsicht insbesondere junge Menschen zu inspirieren? Oder kann sie definitiv, sozusagen „ausgestopft“, in einem historischen Museum deponiert werden?

Eine so gestellt Frage kann man nicht objektiv, d. h. aus der Position eines unbeteiligten Beobachters, beantworten. Vor allem sollten sie die jungen Menschen selbst beantworten. Es fanden sich auch unter den Universitätsprofessoren Menschen, die der Stimme ihres Gewissens Vorrang vor der Taktik gaben, und auch einige neue sind auf das Universitätspodium gestiegen; möglicherweise werden in ihnen die nächsten Studentengenerationen ihre Inspiration finden können. Es gibt allerdings auch manche ideologischen Punkte, manche Gedanken, die es wert sind, erinnert zu werden. In diesem Moment würde ich gern nur an Jan Patočka erinnern. Allein die Erwähnung dieses Namens, des Namens eines ordentlichen Professors der Karls-Universität, muß oder sollte wenigstens ein Stachel sein, der sich unserer ganzen akademischen Gemeinde unter die Haut bohrt. Unser größter Nachkriegsphilosoph unterrichtete als Professor an dieser Universität gerade mal fünf Jahre, und vorher nur zweimal, immer nur kurz, als einfacher Privatdozent. Dieser Mann erklärte in seinen letzten Lebenstagen im Zusammenhang mit der Charta und ihren Aktivitäten, daß der Kampf um die Menschenrechte, den wir begonnen haben, keine isolierte Schlacht, sondern ein ganzer Krieg sei, und zwar ein Krieg, dessen Ende wir vielleicht gar nicht erleben werden. Er selbst hat noch nicht einmal drei Monate dieses Krieges erlebt, wir anderen erlebten ihn zwanzig Jahre. Im Verlauf dieser Zeit kam es zu einem bedeutenden Bruch: die kommunistischen Apparatschiks, die im Solde Moskaus standen und im Kokon der StB verkappt waren, herrschen nicht mehr. Wir leben erneut in einer demokratischen Gesellschaft, deren demokratische Strukturen wir zu Ende errichten und vertiefen müssen. Wenn wir selbst nicht versagen, haben wir heute eine recht gute Perspektive. Was wir auf keinen Fall tun dürfen, ist, dies für den definitiven Sieg der Menschenrechtsidee und deren Etablierung für immer und ewig zu halten. Wenn ich hier Patočkas Ideen benutzen darf, so haben die Schlachten sehr unterschiedliche Gestalt angenommen, der Krieg aber dauert fort. Ich würde dies auch gern ohne Benutzung solch problematischer Begriffe formulieren. Und zwar wieder mit Patočka: Auch heute wird keine Nachgiebigkeit – ich würde hinzufügen: und auch keine Opportunität – zu der benötigten Verbesserung der Situation führen, und auch heute gilt, daß es Dinge gibt, für die es sich zu leiden lohnt, und gerade für diese Dinge lohnt es sich zu leben.

Heute ist besonders von Nöten, immer und immer wieder an erster Stelle die tschechische Intelligenz zurück zu Demut und Bescheidenheit zu rufen und sie daran zu erinnern, daß irgend etwas wie Gewissen existiert. Wo anders sollte man daran erinnern als an einer Universität, die vor 649 Jahren gegründet wurde?

Rede zur Festsitzung des Wissenschaftsrates der Karls-Universität aus Anlaß des 20. Jahrestages der Entstehung der Charta 77

Der Vortrag wurde am 10. Januar 1997 in der Prager Bethlehem-Kapelle gehalten. Aus dem Tschechischen übersetzt von Vlasta Wallat