- in: Communio viatorum, 1966, roč. 9, č. 3, 9, 1966, č. 3, str. 205–206
Aspekte der Angst [1966]
Hrsg. von Hoimar v. Ditfurth. Georg-Thieme-Verlag, Stuttgart 1965. X + 129 S.
Der Sammelband enthält sechs Referate, die an der vierten Tagung der „Starnberger Gespräche“ (im Oktober 1964) vorgetragen wurden, sowie Ausschnitte aus den Diskussionen und das Schlußwort von Jürgen Habermas. (Die Referate: Walter Schulz, Das Problem der Angst in der neueren Philosophie; Richard Alewyn, Die literarische Angst; Hans Kunz, Zur Anthropologie der Angst; Horst E. Richter, Zur Psychoanalyse der Angst; Rudolf Cohen, Versuche zur Quantifizierung von Angst; Rudolf Bilz, Der Subjektzentrismus im Erleben der Angst. Neben den Referenten nahmen an den Gesprächen weitere zehn Spezialisten teil.) Das Buch bezeugt nicht nur die große allgemeine Bedeutung des gewählten Themas, sondern vor allem auch den außerordentlichen Nutzen einer solchen Konfrontation verschiedenartiger Begriffsapparate, die die innerhalb einzelner Wissensgebiete entwickelt wurden und mit welchen man oft nur von einem Gesamtproblem abgetrennte Fachaspekte behandelt.
Der einleitende Beitrag eines Philosophen geht von Kierkegaards Unterscheidung zwischen Furcht und Angst aus, die der Verfasser selbst zwar in sprachlicher und psychologischer Hinsicht als recht problematisch bezeichnet, doch aber aus hermeneutischen Gründen benützt. Nach Kierkegaard bezieht sich die Furcht auf etwas Bestimmtes, sie ist gegenstandsgebunden; die Angst dagegen ist eine gegenstandslose „Stimmung“. So begreifen es u. a. auch Heidegger und Jaspers. Philosophiegeschichtlich sieht man dann, daß bei den Griechen Furcht und Angst noch an bestimmte Situationen fixiert und an bestimmte Haltungen geknüpft sind. Erst in der Gnosis und im frühen Christentum kommt zum ersten Male im abendländischen Denken die Grundstimmung der Weltangst auf, d. h. das Phänomen einer merkwürdig unbestimmten und gegenstandslosen Beängstigung. Diese Angst ist nach Schulz eine Voraussetzung des Christentums in dem Sinne, daß es nur im Glauben dem Christen möglich ist, die Welt zu überwinden und dadurch von der Weltangst freizukommen. Doch (und bei Professor Schulz scheint es beinahe so, als ob es vielleicht gerade deswegen wäre) wird die Angst durch das ganze Mittelalter nicht behoben und erst zu Beginn der Neuzeit wird ein neues und bisher unbekanntes Vertrauen zur Welt wach. Die Welt ist in diesem neuen Sinn eine Ordnung, die als vernünftig nicht nur verstanden, sondern gar berechnet werden kann. Der Gedanke der Weltvernunft triumphiert in Hegels spekulativer Philosophie. Nach Hegels Tod vollzieht sich jedoch im späteren 19. Jahrhundert eine tiefe Umwandlung, in der das Vertrauen auf die Vernünftigkeit der Welt hinfällig wird. Professor Schulz unterstreicht, daß diese Umkehrung beim späteren Schelling beginnt. Mit dem Zweifel an einer absoluten Vernünftigkeit der Welt hängt die Entdekkung des Irrationalen und des Triebhaften als des letzthin nicht rational Verstehbaren zusammen. Zum zweiten Male erwacht die gegenstandslose Weltangst, in der der Mensch Angst davor hat, daß er nicht mehr seiner selbst als eines vernünftigen Wesens Herr ist und daß ein Dunkel-Chaotisches ihn unwiderstehlich überkommt. Und diese Entwicklung bestimmt auch uns noch heute.
Es ist auffallend, wie es dieser geistesgeschichtlichen Erwägung (die leider von jedem Verhältnis zur geschichtlich-gesellschaftlichen Lage abstrahiert) nicht gelungen ist, sich als Rahmen weiterer Vorträge oder mindestens der Diskussionen durchzusetzen. Nicht nur, daß z. B. Professor Kunz den Erwähnten Unterschied zwischen Furcht und Angst ausgesprochen abgelehnt hat, sondern vor allem waren auch die drei theoretischen Grundansätze, die in weiteren Beiträgen sich durchsetzten und dann im Résumé von Professor Habermas zusammengefaßt wurden, vollkommen anders orientiert. Nach der biologischen Leerlauftheorie der Angst im Sinne von Konrad Lorenz wird die stammesgeschichtlich verankerte Erlebnisbereitschaft für Erregung und Furcht in unserer weit dehostilisierten Welt zu einer frei flottierenden Angst emanzipiert (Bilz). Die psychologische Impftheorie der Angst, die Freud entwickelt hat, versteht die Sache so, daß die durch lebensgeschichtliche Traumata hervorgerufene Angstreaktionen ein Übersoll an Abwehrreaktionen speichern und insofern den Organismus gegen ähnliche, wiederkehrende Situationen immunisieren (Richter). Und schließlich die soziologische Theorie der Angst begreift die Angst als eine Folge von Gruppenidentitätsstörungen. Erst im Schlußwort von Jürgen Habermas wurden von Neuem geschichtliche Motive eingeführt, indem beim Menschen als ein weltgeschichtliches Novum der Zwang betont wurde, die Gruppenidentitäten immer wieder zu zerbrechen und neu aufzubauen. Dieser Zwang zum historischen Zerbrechen der Gruppenidentitäten ermöglicht uns nach Habermas verständlich zu machen, warum Angst als ein konstitutiver Zug des menschlichen Daseins aufgefaßt werden kann.
Im allgemeinen kann man in den Materialen der Tagung ein Übergewicht naturwissenschaftlichen Denkens spüren, besonders in den den Diskussionsbeiträgen. Die geistesgeschichtliche Auffassung von Schulz scheint mir in ihrer Perspektive ein bißchen verzeichnend, weil sie vom abendländischem Denken griechischer Prägung ausgeht und dann in dieser Tradition nur zwei Ausbrüche der gegenstandslosen Weltangst (im Hellenismus und nach Hegel) anerkennt. Diese gegenstandslose Weltangst ist aber viel älter, fast „uralt“, und ist eben für das Verhältnis des archaischen Menschen zu der vollkommen unsicheren, als schwarzer Abgrund sich öffnenden Zukunft charakteristisch. Das griechische, sowie das neuzeitliche Vertrauen auf die Vernünftigkeit, rationelle Durchsichtigkeit und auch Beherrschbarkeit der Welt kann auch als eine Art von Vergessenheit verstanden werden. Im Vertrauen auf die vernünftig geordnete Welt wird die Angst nur vergessen, aber nicht aufgehoben. Sehr interessant ist auch der Beitrag von Hans Kunz und seine Konzeption der „Sterblichkeit“ als Ursprung der Angst und sogar als eines ontischen Konstituens des ganzen Menschseins; leider sind gewisse Züge dieser Auffassung auch noch nach der Diskussion im Dunklen geblieben.
Das Büchlein neuer „Starnberger Gespräche“ lohnt gelesen zu werden, besonders deswegen, weil die Teilnehmer keine fest umrissenen, starr gewordenen Thesen vorgelegt haben, sondern viele Fragen offen gelassen und dadurch zum Fortschreiten angeregt sowie zur Diskussion und sogar Polemik provoziert haben. Wenn wir am Ende lesen, daß die nächste Tagung den Fragen der Möglichkeiten einer evolutionären bzw. historischen Veränderung der menschlichen Angst gewidmet sein sollte, können wir nur gespannt auf das Erscheinen der Dokumente warten.