Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe
německy, přel. Milan Walter – Eva Bauer, 1988, München: P. Kirchheim
Vorwort [Wahrheit und Widerstand], str. 7–9 | Die Anfänge der Charta ’77, str. 11–15 | Charta ’77 und die Moral der Kritiker, str. 16–20 | Die Stellung der Kirche zur Charta ’77, str. 21–28 | Die Berechtigung und die Wirkung der Charta ’77, str. 29–35 | Konservative, gemäßigte und radikale Strömungen innerhalb der Charta ’77, str. 35–43 | Über den Sinn der Geschichte, str. 43–51 | Die historischen und politischen Bedingungen der Charta ’77 und ihre Folgen, str. 51–59 | Repressionen gegen die Charta ’77 und gegen das „Komitee zur Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten“ (VONS), str. 60–68 | Charta ’77 und der Zusammenhang zwischen Unterdrückung und Aufrüstung, str. 68–76 | Politische Prozesse und die Bedeutung der Charta ’77 für die Zukunft, str. 76–87 | Glaubens- und Gedankenfreiheit im Marxismus-Leninismus, str. 88–92 | Was ist Christentum?, str. 92–98 | Der Mensch und sein Gewissen, str. 99–105 | Kommunismus und Marxismus, str. 106–112 | Der Kommunismus und seine christlichen Wurzeln, str. 112–119 | Ethik und Politik, str. 119–127 | Christentum und Sozialismus, str. 127–134 | Sozialismus und Demokratie, str. 135–139 | Der Stellenwert der Politik im menschlichen Leben, str. 140–146 | Was ist Revolution?, str. 146–152 | Demokratie oder Diktatur, str. 153–159 | Philosophie und Demokratie, str. 159–166 | Philosophie und Politik, str. 167–174 | Pragmatismus und Idealismus, str. 175–182 | Die historische Bedeutung der Menschenrechte in der Demokratie und in der Diktatur, str. 183–188 | Die „sozialistische“ Auslegung der Menschen- und Bürgerrechte, str. 189–195 | Die Vorstellungen zur Durchsetzung der Menschenrechte, str. 195–201 | Die Technik der Macht, str. 202–209 | Die Vertreibung der Deutschen nach 1945 und die Menschenrechte, str. 210–218 | Menschenrechte und Ökologie, str. 218–226 | Emigration oder Verfolgung?, str. 227–231 | Ist Emigration Verrat?, str. 232–238 | Nationalismus, Heimat und Emigration, str. 239–246 | Nation – Territorium oder Tradition, str. 247–254 | Philosophische Seminare und „Wissenschaftlicher Sozialismus“, str. 255–262 | Philosophie und politisches Handeln, str. 263–270 | Philosophie und politisches Handeln, str. 263–270 | Die Charta ’77, str. 271–275 | Ladislav Hejdánek: Eine biographische Skizze, str. 276–279 | Anmerkungen, str. 280–290

Die Technik der Macht

Lieber Freund,

ich habe die Kommentierung der Ereignisse um den Ball verschoben inzwischen sind wir alle ausführlich und von vielen Seiten über den Verlauf dessen, was dort und auch danach vorgefallen ist, informiert. Sicher sind Berichte einzelner Teilnehmer auch bis zu Dir durchgedrungen. Ich nehme deshalb an, daß es keinen Zweck hätte, noch etwas davon zu wiederholen. Eine Anzahl von Freunden, von denen einige die ursprüngliche Deklaration der Charta ’77 unterzeichnet hatten (es war jedoch bei weitem kein „Unternehmen“ der Charta, weil auch zahlreiche Nicht-Chartisten, insbesondere Familienangehörige, aber nicht nur sie, teilgenommen hatten), hatte sich zu einer gemeinsamen Teilnahme am Ball der Eisenbahner verabredet. Sie hatten keinen Grund, es zu verheimlichen. Die Polizei hat es aufgrund ihrer „Mittel“ schon vorher gewußt und ihre „Maßnahmen“ getroffen. Sie hat für die Aktion Dutzende uniformierter und nichtuniformierter Polizeibeamter bereitgestellt, Mitglieder des Sonderkommandos waren als Ordner getarnt am Gebäudeeingang, im Treppenhaus, an der Garderobe und vor dem Saaleingang postiert. Andere samt ihren Familienangehörigen wurden in den Saal beordert; für diese wurden vom Veranstalter bereits verkaufte Eintrittskarten eingetrieben und zurückgekauft. Der Ballbeginn wurde für diese derart Organisierten und Informierten um eine Stunde verschoben wegen der besseren Möglichkeit, die verschiedenen Gruppen der Anwesenden voneinander zu trennen. „Experten“ waren anwesend, die die Hauptpersonen erkennen sollten. Die Ankommenden mußten sich legitimieren und falls man sie identifizierte, wurden sie aus dem Gebäude gewiesen. Die Namen anderer mußten erst im Verzeichnis der Unterzeichner gesucht werden; diese Menschen wurden dann unverzüglich aus dem Saal gewiesen. Es fehlte nicht an Grobheiten. Noch kurz vor Mitternacht wurden einige zu spät Gekommene auf eine Art und Weise hinausgeworfen, die einen, wenn auch harmlosen, Konflikt provozieren sollte, um einen Grund für schärfere Maßnahmen zu haben. Einige Anwesende wurden tätlich angegriffen, beleidigt und sogar mit Tritten traktiert (auch Frauen). Pavel Kohout erlitt nach einem Karateschlag eine leichte Gehirnerschütterung. Eine Reihe von Menschen wurde festgenommen und vorgeführt, drei Personen wurden verhaftet und sollen vor Gericht gestellt werden (Havel, Kukal, Landovský). Das wäre in Kürze etwa das Bild, das ich mir aufgrund einer ganzen Reihe von Zeugenaussagen derer gemacht habe, die anwesend waren und alles miterlebten. Ich selbst wollte auch ursprünglich mit meiner Frau und meinen Töchtern teilnehmen, aber nach einem groben Eingriff der Polizei Anfang Januar war ich ans Bett gefesselt, meine Frau fühlte sich nicht wohl, und die Töchter wollten nicht allein gehen.

Was kann man daraus schließen? Vor allem kann mit Recht auf die offensichtliche Verletzung der Gesetze hingewiesen werden, insbesondere auf den Mißbrauch behördlicher Macht (§ 158 StGB), auf die Beeinträchtigung der Rechte anderer (§ 209 StGB), auf die Beschränkung der persönlichen Freiheit (§ 231 StGB), auf die Gefährdung an Leib und Leben (§ 221 StGB) usw. Nicht weniger bedeutend ist außerdem die Tatsache, daß die Polizei die Gesetze keineswegs dazu benutzt, die Ordnung zu wahren, sondern um Konflikte zu schüren. Daß dazu solche besonderen Umstände gewählt wurden, erhöht nur die Absurdität der Situation. Das kann man einerseits durch die Nervosität und Unsicherheit des Regimes erklären. Es kann sich jedoch auch um eine mutwillige Aktion einer Abteilung der Sicherheitsbehörden handeln, die eine Atmosphäre der Bedrohung und der Gefahr hervorrufen wollte. Und schließlich könnte es sich um einen Versuch handeln, zu beweisen, welche Gefahren gedroht hatten und was alles durch einen rechtzeitigen Eingriff verhindert worden ist, also um eine gewisse (verhältnismäßig billige) Rechtfertigung der Arbeit des Sicherheitsapparates. Aber mit der Zeit verbreitet und vertieft sich dieser Vorfall, gewinnt an Wesentlichem und wird zu einem bedeutungsvollen Symptom. Das, was eine untergeordnete Abteilung des Sicherheitsapparates tut, wird zu einer Handlung des ganzen Apparates, für den der Innenminister und die ganze Regierung verantwortlich sind, falls sie sich nicht davon distanzieren und falls es nicht zu unvermeidlichen Disziplinarmaßnahmen und zu Bestrafungen der unmittelbar Schuldigen kommt. Bisher deutet nichts darauf hin, daß es an den höchsten Stellen auch nur in geringstem Maß die Bereitschaft gäbe, die unsinnigen polizeilichen Aktionen zu revidieren und künftig ganz einzustellen, die hauptsächlich auf Schikanen, Bedrohungen und allen denkbaren Belästigungen unbequemer Bürger beruhen und in letzter Zeit immer wieder zu Provokationen und physischer Gewalt eskalieren. Wir können allerdings nicht übersehen, daß diese Extremfälle im Grunde ziemlich vorsichtig begonnen und gewöhnlich nicht zu Ende geführt werden, wenn es um markante Fälle geht, die von unserer und auch von der ausländischen Öffentlichkeit beobachtet werden. Daraus wird klar, daß manches noch offen, oder besser ungelöst bleibt. Von hier führen jedoch nur zwei Wege weiter: Entweder eskalieren Härte, Provokationen und Gesetzwidrigkeiten, so daß es für eine gewisse Zeit zur Renaissance des Stalinismus kommt, oder es werden vernünftige Menschen die Oberhand gewinnen, die begreifen, daß die Kritiker zum Schweigen zu bringen noch nicht die wirkliche Lösung der Probleme bedeutet.

Wir können unsere Überlegungen noch weiter führen. Die Machtelite hat sowohl in unserem Land, wie auch im ganzen Ostblock alle materiellen Mittel zur Liquidierung nichtkonformer Köpfe in der Hand. Sie verfügt über entschieden mehr derartige Mittel, als ihre faktischen Reaktionen erkennen lassen. Warum hält sie sich zurück, ohne daß sie auf der andern Seite geneigt wäre, etwas für die wirkliche Normalisierung zu tun, die sie schon seit Jahren verspricht und die sie jetzt sogar schon eine Zeitlang als durchgeführt verkündet? Ich habe Dir einmal geschrieben, daß für mich nicht das Allerwichtigste ist, welchen Umfang die polizeilichen Eingriffe erreichen und wie drastisch sie sind, sondern die unmittelbare Erfahrung, wie im Dienste der Sicherheitsorgane Leute arbeiten, die fähig und bereit sind, auch die gröbsten und drastischsten Eingriffe durchzuführen. Damals sprach ich aufgrund der Erfahrung, daß mich Angehörige des Staatssicherheitsdienstes mit Gewalt von der Arbeit wegschleppten, wie sie mich durch den Dreck zerrten und über die Treppen schleiften, wie sie mich mit den Füßen traten und mich viele Stunden lang in einem eiskalten Raum zurückließen. Jetzt sind noch die Erfahrungen meiner Freunde mit der Aktion der Sicherheitsorgane auf dem Ball der Eisenbahner hinzugekommen. Während mein Fall noch für den Fehlgriff einiger weniger Sicherheitsbeamter gehalten werden kann, die nicht repräsentativ sind (ich hatte damals den Eindruck, daß sie dafür, was sie getan haben, kein Lob ernten würden), ist der neue Fall wesentlich ernster, weil es sich um eine breit organisierte Aktion einer Hundertschaft der Sicherheitsorgane (vielleicht auch mehr) handelte. Während in meinem Fall alles am gleichen Tag abends beendet war, werden drei Menschen bis jetzt in Untersuchungshaft gehalten, werden fälschlich und unsinnig beschuldigt, und es wartet ein Gerichtsprozeß auf sie. Das ist kein Fehlgriff mehr, das ist eine geplante Aktion, die bis ins letzte Detail ausgearbeitet wurde (wenn auch schlecht ausgearbeitet, das muß man zugeben). Heute kann niemand mehr bezweifeln, daß es entweder ein Unternehmen einer politischen Grupe war – die Zwischenfäle für ihre Ziele oder Argumente gegen eine andere Gruppe (andere Gruppen) braucht – oder es ist die offizielle Linie der politischen Führung insgesamt. Im ersten Fall würde es von einer erheblichen Labilität der gegenwärtigen Situation zeugen und auch von einer ernsten Gefahr eines in der Vorbereitungsphase befindlichen Versuchs eines Rechtsrucks, der sich der Kontrolle der gegenwärtigen Führung entzieht. (Dazu werde ich noch einiges bemerken. Deine schon etwas ältere Frage, wie ich eigentlich das, was „rechts“ und was „links“ ist, unterscheide, wenn ich keine gängige offizielle Klassifikation anerkenne, habe ich nicht vergessen). Im zweiten Fall würde es eine erhebliche Befangenheit und Unentschlossenheit der Führung signalisieren. Einerseits kann sie die wirkliche Anomalität der Situation und die Berechtigung der Kritik (einschließlich unserer eigenen) nicht übersehen, andererseits hat sie jedoch nicht Vorstellungsvermögen und Kraft genug, um Abhilfe zu schaffen, bevor es zu spät ist.

Worauf könnte die erwähnte „vernünftige“ Alternative beruhen? Das ist besonders für die Unterzeichner der Charta ’77 eine sehr wichtige, in gewisser Hinsicht entscheidende Frage. Die Charta ’77 orientiert sich nämlich mit ihrer ursprünglichen Zielsetzung und der ganzen Struktur ihrer weiteren Arbeit auf eine vernünftige Lösung und einen vernünftigen Ausgang der langfristig unhaltbaren heutigen gesellschaftlichen und politischen Situation. Wenn sie innenpolitische Zusammenstöße und plötzliche machtpolitische Veränderungen erwartete, bzw. die Erfüllung ihrer Forderungen und Ziele, wäre sie ein wirklicher politischer Nonsens (wie es übrigens manchem einheimischen und ausländischen „Beobachter“ auch scheint). Die Forderungen der Charta ’77 sind jedoch politisch sehr gemäßigt und unterscheiden sich eigentlich gar nicht von der politischen Grundhaltung, die vom gegenwärtigen Regime offiziell und öffentlich verkündet wird. Die Charta ’77 will nichts anderes, als daß unsere Regierung, alle politischen Repräsentanten und der gesamte Staatsapparat die inländischen Gesetze und internationalen Verpflichtungen einhalten, zu denen sie sich formal bekennen oder die sie sogar freiwillig abgeschlossen haben, insbesondere auch, daß sie in allen Bereichen die elementaren menschlichen Freiheiten und unveräußerlichen Menschen- und Bürgerrechte respektieren (wozu sich übrigens unser Staat selbst freiwillig verpflichtete, und zwar durch die Unterschrift und die Ratifizierung beider internationaler Pakte und weiterer Konventionen, so auch durch die Unterschrift unter die Schlußakte von Helsinki). Weiterhin besteht die Charta ’77 darauf, daß die Gesetze für jedermann die gleiche Gültigkeit haben müssen. Ich wurde schon mehrmals von seiten meiner ausländischen Freunde und auch von einigen ausländischen Journalisten gefragt, ob ich wirklich glaube, daß das gegenwärtige Regime diese seine unbestreitbaren Verpflichtungen realisieren und dabei gleichzeitig überleben könne. Darauf antworte ich immer wieder, daß das nicht meine Sorge sei, daß es sich die Regierung habe hinreichend überlegen können, bevor sie diese Verpflichtungen auf sich nahm. Es ist an uns, sie in dieser Angelegenheit beim Wort zu nehmen und auf der Erfüllung ihrer Verpflichtungen zu beharren. Jeder Bürger hat das Recht zu kontrollieren, ob seine Regierung die Verpflichtungen erfüllt, die sie freiwillig auf sich genommen hat; und sofern sie es nicht tut, hat er das volle Recht, sie zu kritisieren und zur Ordnung zu rufen. Das Recht dazu hat er zweifelsfrei; anders steht es um die Möglichkeit, es zu verwirklichen. Aber unsere Regierung hat auch die Verpflichtung auf sich genommen, die bürgerliche Kontrolle und Kritik zu ermöglichen. Und das ist die Basis unserer bürgerlichen Initiative. Kurzum, wir rechnen damit, daß sich verantwortliche Ämter, die Regierung selbst und schließlich auch die Nationalversammlung mit ernsthaften Problemen werden beschäftigen müssen, die letztlich alle Bürger betreffen (egal ob sie davon wissen oder nicht, weil, wenn sie davon nichts wissen, es nur die Folge des Informationsmangels ist, was sie jedoch keinesfalls vor den realen Folgen beim Anwachsen der Schwierigkeiten schützen wird), und auf die wir in unseren Dokumenten und Mitteilungen und in unseren an sie adressierten Briefen aufmerksam machen.

Gerade deshalb ist die Charta ’77 keine Oppositionspartei geworden und sie kann sich auch jetzt nicht in eine politische Opposition verwandeln. Wenn es sich allerdings zeigen sollte, daß auch nach zehn Jahren seit der militärischen Intervention einiger verbündeter Staaten die Regierung das gesellschaftliche und politische Leben in unserem Land nicht wirklich normalisieren will oder kann, besteht eine große Wahrscheinlichkeit, daß sich eine solche politische Opposition auf die eine oder andere Weise schließlich doch konstituiert. Das wird jedoch nicht auf dem Boden der Charta ’77 möglich sein, weil die Charta laut ihrem grundlegenden Dokument „keine eigenen Programme für politische und gesellschaftliche Reformen oder Veränderungen aufstellen … will“ und deshalb „keine Basis für oppositionelle politische Handlungen ist“. Diese Formulierungen und Grundsätze können weder verändert noch fallengelassen werden, da die Charta ’77 keine Organisation ist und somit kein Statut hat, das verschiedene Kompetenzen und Formen festlegt, wie man etwas Derartiges legitim erreichen könnte. Aus demselben Grund ist es nicht möglich, daß die Charta ’77 ihre Tätigkeit einstellt oder sich selbst auflöst. Nur einzelne Unterzeichner können ihre Unterschrift widerrufen. Sie müssen es jedoch genauso öffentlich tun wie bei ihrer Unterzeichnung.

Die Charta erwartet also eine „vernünftige“ Alternative zur gesellschaftlichen und politischen Entwicklung des Landes, und nur darauf zielt sie ab. In gewissem Sinne erwartet sie von der „vernünftigen Entwicklung“ nichts, was so kolossal umwälzend wäre: Sie erwartet nur, daß die administrative Mutwilligkeit eingeschränkt und geahndet wird, und daß die Verletzung und der Mißbrauch der Gesetze durch die Ämter, Sicherheitsorgane und Gerichte unterdrückt und ausgeschlossen wird, daß die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz bewahrt bleibt und daß sie nicht, unter dem Vorwand des Klassenbewußtseins, flagrant verletzt wird, daß die Gummiparagraphen präziser formuliert werden, und daß die ganze Rechtsordnung bis ins Detail mit den internationalen Konventionen, die zu ihrem Bestandteil geworden sind, in Einklang gebracht wird, daß menschliche und bürgerliche Rechte nicht mutwillig eingeengt werden, sondern daß sie überall und unter allen Umständen respektiert werden, und daß Fehlgriffe und Verstöße, zu denen es in den vergangenen Jahren im Widerspruch zu den Gesetzen und Verpflichtungen, die unser Staat auf sich nahm, gekommen ist, wiedergutgemacht werden. In gewissem Sinn stellt dies ein Programm dar, das sich in nichts von den Verpflichtungen und dem Programm der Regierung selbst unterscheidet. Und doch würde die Realisierung dieses Programms eine durchschlagende Veränderung der faktischen Lage unserer Gesellschaft und ihre tiefe Genesung bedeuten.

Ein Beweis dafür, daß die Charta ’77 wirklich keine politische Opposition darstellt, ist die Tatsache der großen Meinungsverschiedenheiten ihrer Unterzeichner und die breite Streuung ihre politischen Orientierung. Das ist wieder ein Grund dafür, daß jede noch so nötige und noch so richtige bürgerliche Initiative, die über den Rahmen der Charta hinauswächst, keineswegs als eine Aktivität der Charta ’77, sondern als eine selbständige, wenn auch parallele Aktivität und Initiative durchgeführt wird. Es spricht nichts dagegen, daß einzelne Unterzeichner der Charta ’77 gemeinsam mit anderen Bürgern, die die Charta aus welchen Gründen auch immer nicht unterschrieben haben, an ähnlichen Aktivitäten teilnehmen. Nichts verpflichtet jedoch die übrigen Unterzeichner der Charta ’77, sich ihnen anzuschließen. Ich selbst halte es für einen riesigen Gewinn und für einen historischen Umbruch in der politischen Entwicklung der NachkriegsTschechoslowakei, daß die Charta ’77 das Zusammenkommen von so verschiedenen und während einiger Jahrzehnte miteinander fast nicht kommunizierenden Richtungen und Persönlichkeiten ermöglicht hat. Das, wozu es im vergangenen Jahr in dieser Hinsicht gekommen ist, bedeutet keine bloße Rückkehr zur Situation des Jahres 1968, sondern einen Schritt vorwärts. Menschen, die verschiedene Vorstellungen über eine wünschenswerte politische Entwicklung unseres Landes in den nächsten Jahren haben, haben sich in der Forderung nach einer wirklich demokratischen Gesellschaft beachtenswert vereinigt. Obwohl sie eine ziemlich unterschiedliche politische Vergangenheit haben, verkündeten sie ihren Willen, in gegenseitigem Respekt und gemeinsam in die Zukunft zu gehen, d.h. sie erklärten, daß ein Stück ihrer Zukunft auch für die anderen offen sei. Das ist eine große Sache, die vertan würde, wenn sich aus der Charta ’77 eine nur politische oppositionelle Kraft entwickeln würde. Die demokratische Orientierung ist an sich noch kein hinreichendes politisches Programm, aber sie ist eine Garantie oder eher ein Bekenntnis und eine Bekräftigung, daß man bei der Realisierung seines politischen Programms keinem, der einer anderen Überzeugung ist, seine Zukunft dadurch zu stehlen beabsichtigt, daß man ihn aus der eigenen Zukunft ausschließt. Gleichzeitig ist es eine Verpflichtung, daß man keinen politischen Sieg, den man eventuell erreicht, für definitiv zu halten und zu verkünden gedenkt, sondern daß man bereit ist, nach Ablauf einer entsprechenden Zeit aufs Neue vor seine Mitbürger zu treten und sie um ein Mandat für eine weitere Wahlperiode zu bitten. Damit ist die weitere Verpflichtung verbunden, daß man der politischen Konkurrenz nicht entgegenwirken werde, damit sie sich auch, genauso wie man selbst, um Wähler und ihr Mandat bewerben kann, auch wenn sie es in der vergangenen Wahlperiode (oder mehreren vorherigen Perioden) nicht bekommen hat und in der Opposition geblieben ist. Eine derart zum Ausdruck gebrachte demokratische Gesinnung kann zu einer Plattform werden, auf der verschiedene politische Richtungen in Einigkeit Fuß fassen, deren Rivalisieren und gegenseitige Streitigkeiten nicht unbedingt den Versuch der gegenseitigen Liquidierung und somit die Spaltung der Gesellschaft zur Folge haben müssen.

Was freilich dann, wenn sich in den Reihen der regierenden Schicht nicht genug Vernunft findet, nicht genug Wille, den Problemen die Stirn zu bieten, und nicht genug Mut zum Vertrauen gegenüber den Bürgern und ihrer Bereitwilligkeit, vernünftige Maßnahmen zu unterstützen, und neue, vernünftigere und politisch gereiftere Wege zu gehen? – Selbstverständlich ist auch das möglich, wenn es auch, objektiv genommen, nicht zu erwarten ist. Das wäre ein Akt der Verzweiflung, der politischen Blindheit und des Bankrotts. Das Leben der Gesellschaft kann nur marginal reguliert werden, aber als ein Ganzes muß es organisch vorwärtsschreiten. Auf keinen Fall kann es für lange Zeit nur mechanisch oder machtpolitisch dirigiert werden. Trotzdem kann der Versuch solchen machtpolitischen Dirigierens und bürokratischer Reglementierung insbesondere in Anbetracht der anomalen Situation bei uns nicht ganz ausgeschlossen werden. Langfristig würde das zweifellos einen Krach bedeuten und es wäre eindeutig ein Ausdruck der politischen Minderwertigkeit der Führung; kurzfristig aber könnte es eine Serie von Schäden mit sich bringen, die nicht so leicht und schnell zu reparieren wären. Es wäre gewiß völlig abwegig, dazu mit der Überzeugung Stellung zu nehmen: „Je schlimmer, desto besser“, aber was kann man dagegen unternehmen? Wir müssen wenigstens versuchen, das nicht zu fördern. Unsere Haltung muß eindeutig und bestimmt sein, aber ohne Provokationen. Jede unserer Aktivitäten muß so weit durchdacht sein, daß sie höchstens zu Konflikten führt, an denen wir offensichtlich nicht schuld sein können. Wir müssen konsequent alles vermeiden, was wie eine Provokation aussehen könnte. Aber in keinem Fall dürfen wir uns vergrätzen oder sogar einschüchtern lassen. Wenn es nötig ist, werden wir noch weitere Opfer bringen, aber schweigen werden wir nicht mehr. Möglich, daß wir nicht so bald Besserung erwarten können, möglich, daß unsere Geduld noch lange auf die Folter gespannt wird. An dieser Stelle erinnere ich mich wieder an die Worte von Prof. Patočka, daß es im Kampf um Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten nicht um eine kurze Schlacht, sondern um einen langen Krieg geht, dessen Ende wer weiß wer von uns erleben wird. Wir brauchen also in jedem Fall Geduld, aber auch Unbeirrbarkeit, Unermüdlichkeit und Festigkeit, kurzum Beharrlichkeit.

Es wird sich zeigen, was kommt. Wenn es nur um unsere Länder, um unsere Gesellschaft ginge, hätte ich nicht viel Hoffnung. Unsere Entwicklung ist in diesem Jahrhundert ziemlich zickzackförmig verlaufen und sie ist durch einige nationale Katastrophen schwer in Mitleidenschaft gezogen. Besonders in den letzten zehn Jahren ist sie aus dem Gleichgewicht und aus den Fugen geraten, weil sich in hohem Maße eine völlig dubiose Selektion (oder eher vielleicht „Antiselektion“) durchgesetzt hat, in deren Folge entweder unfähige oder zu allem fähige Leute in einem untragbaren Prozentsatz auf führenden Positionen sitzen, während qualifizierte Fachleute zu oft disqualifiziert, ihres Einflusses und oft auch der Möglichkeit beraubt wurden, in dem Ressort zu arbeiten für das sie alle Voraussetzungen haben. Aber wir sind nicht allein. Die Gesellschaft schreitet vorwärts, niemand hat die Zukunft in der Hand. Und die am wenigsten sichere Zukunft haben diejenigen, die sich nur auf Macht und Gewalt verlassen, die von Ungerechtigkeiten und Unrecht leben, die nichts schaffen, sondern nur das Leben von Parasiten führen, die von nichts eine Ahnung haben (am wenigsten von den Menschen), aber über alles entscheiden wollen, während den anständigen Menschen nichts anderes übrig bleibt, als diesen Hindernisse in den Weg zu legen und ihnen nichts zu erleichtern. Aber gleichzeitig müssen wir von Grund auf durchdenken, was unsere Gesellschaft eigentlich am meisten und in erster Linie braucht, und wie wir wirklich helfen können. Die Zeit wird kommen, wo man uns oder unseren Kindern diese Frage stellen wird.

Dein

Ladislav Hejdánek

Prag, den 16.2.1978