- in: Frankfurter Rundschau, 1997, č. 107, str. ZB 2 (10. 5.)
Philosophieren im Geheimen [1997]
Ladislav Hejdánek war Mitbegründer der tschechischen Bürgerrechtsbewegung „Charta 77“ und einer ihrer ersten Sprecher. Zu den wenigen nichtmarxistischen Philosophen der Tschechoslowakei gehörend, war er Schikanen ausgesetzt und mit einem Berufsverbot belegt; er war langjähriger Dozent der illegalen Prager „Patočka-Universität“. Heute gehört Hejdánek der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder an und lehrt Philosophie an der Prager Karls-Universität. Er feiert heute seinen 70. Geburtstag.
Herr Professor Hejdánek, Philosophie im real existierenden Sozialismus, das bedeutete: Marxismus-Leninismus. Sie haben erst nach dem Krieg studiert?
Ich habe 1946 mein Abitur gemacht. Ich habe erst ein Jahr Mathematik studiert, dann Philosophie. An der Philosophischen Fakultät waren damals vier Dozenten, die über Logik lasen. Einer von ihnen war Jan Patočka, später Mitbegründer der „Charta 77“, der 1977 nach einem mehrtägigen Polizeiverhör starb. Patočka war nach dem Krieg Privatdozent, bis zu seinem Rausschmiß aus der Universität im Jahre 1948. Weil er als Privatdozent keine Seminare anbieten konnte, haben wir in seinem Proseminar die Logischen Untersuchungen von Husserl gelesen. Das hat mich geprägt. Dort habe ich entdeckt, daß mich die philosophische Logik mehr interessiert als die mathematische. Ich fing 1947 an der Philosophischen Fakultät an, aber schon im Februar 1948 war der kommunistische Putsch, die „Machtergreifung“, wie es im realsozialistischen Sprachgebrauch hieß. Das war schlimm. Das war dann nur noch Marxismus-Leninismus.
Sie haben dann 1952 Ihre philosophische Dissertation zum Thema Konzeption der Wahrheit und einige ihrer ontologischen Voraussetzungen aber noch bei einem sogenannten „bürgerlichen“ Professor, nämlich bei J. B. Kozak, geschrieben.
Ich war einer seiner letzten Schüler. Die meisten fingen an, zu den Marxisten überzulaufen. Ich habe noch ganz ordentlich mein Studium bei ihm beendet. Ich muß sagen, ich habe als Christ, der sozialistischen Ideen gegenüber durchaus aufgeschlossen war, bei den kommunistischen Professoren einen gewissen Respekt erweckt. Ich konnte das Studium zu Ende führen. Dann aber war für lange Jahre Schluß.
Was heißt das?
Ich durfte nicht als Philosoph arbeiten, in keiner akademischen Institution, sondern als Bauarbeiter. Nach ein paar Monaten konnte ich schließlich in der Dokumentationsabteilung eines medizinischen Forschungsinstituts beginnen. Dort war ich zwölf Jahre. Dann kam das Jahr 1968, und ich wurde im Philosophischen Institut als Dozent angestellt, mit noch einem Kollegen, der ebenso wie ich kein Marxist war. Das sollte ein Zeichen sein, daß jetzt Schluß sei mit der ausschließlich marxistisch dominierten Philosophie. Das dauerte nicht ganz drei Jahre, dann wurde ich rausgeworfen. Aber vor mir wurden noch fast alle Marxisten entlassen, als sogenannte Revisionisten und Opportunisten. Dann arbeitete ich ungefähr fünf Jahre als Nachtwächter in einem literarischen Museum. Schließlich kam ich zu einer Baufirma, dort habe ich als Wächter gearbeitet. Wenig später habe ich ein paar Prüfungen abgelegt und mich zum Heizer qualifiziert. Diese Arbeit konnte ich nicht weitermachen, weil ich Probleme mit der Wirbelsäule hatte. So kam ich in ein Ersatzteillager. Während all dieser Zeit wurde ich von der Polizei bewacht.
Als nichtmarxistischer Philosoph konnten Sie nur im Untergrund wirken. Bitte erzählen Sie etwas zur „Patočka-Universität“, wie Ihr illegales philosophisches Seminar auch genannt wurde. Wie ist diese Universität entstanden?
Darf ich Ihnen ein Märchen erzählen? Es war einmal ein Schüler des Philosophen Milan Machovec: Julius Tomin. Das war ein halber Narr. Er hatte fast immer nur dumme Ideen. Interessant aber war, daß sich viele seiner Ideen früher oder später als produktiv erwiesen haben.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel hatte er 1979 die Idee, an mehrere europäische Universitäten zu schreiben. Niemand wußte dort, wer Tomin war. Aber in Oxford, ich weiß auch nicht warum, kam der Brief in die Hände von Anthony Kenny, damals Master am Balliol College. Er gab den Brief einer seiner Dozentinnen, Cathy Wilkes, und bat sie, eine Antwort zu schreiben. Was stand in Tomins Brief? Es stand darin, daß wir als Philosophen jetzt in einer schwierigen Situation seien und daß es schön wäre, wenn die westeuropäischen Philosophen der Philosophie bei uns in den kommenden schweren Jahren helfen würden, zu überleben. Das beste wäre, wenn sie von Zeit zu Zeit nach Prag kämen und in Privatseminaren Vorlesungen halten würden. Er selbst habe mit so einem Privatseminar angefangen und lade sie ein. Das war alles.
Was passierte?
Es kamen wirklich englische Philosophen nach Prag. Tomin war bereit, englischen Journalisten alles über seine Aktivitäten zu erzählen, und zwar in schroffen, nicht gerade diplomatischen Formulierungen. Die Interviews mit Tomin wurden in der Times und anderen bekannten Zeitungen veröffentlicht. Das wurde bei uns als staatsfeindliche Provokation verstanden.
Wann genau hat es mit diesen illegalen Seminaren angefangen? Gleich nach der Niederschlagung des Prager Frühlings?
Eigentlich ja. Ich war aber auch schon 1946 Teilnehmer an einem Privatseminar bei Patočka. Er war sich nicht sicher, ob ihm das Thema nicht gefährlich werden könnte. Wir lasen dort Heideggers Vom Wesen der Wahrheit. Heidegger, Nazismus, und das im Jahre 1946 - also es war besser, so etwas im geheimen zu machen. Ich war damals der Jüngste in diesem Seminar. Wir haben dann im Laufe des Jahres 1969 wieder mit illegalen Seminaren angefangen, an vielen Orten. Aber Tomin kam mit einem neuen Gedanken: Das Seminar öffentlich abzuhalten, jede Woche in seiner Wohnung oder an einem anderen bekannten Platz. Und mit Philosophen aus dem Westen. Er hat darüber gesprochen, und es wurde im Westen publiziert. Die Polizei kam und versuchte alles, um Tomins Seminar zu zerschlagen. Kaum hatte eine Sitzung angefangen, kam die Polizei. Die Seminarteilnehmer wurden für mindestens einen Tag, meistens aber zwei, auch mal vier Tage ins Gefängnis gesperrt. Anthony Kenny, mittlerweile Dean von Oxford, kam auch mit seiner Frau nach Prag. Die Polizei nahm beide fest und setzte sie samt Koffern irgendwo im Wald aus. Sie irrten zwei Stunden herum und wußten überhaupt nicht, wo sie waren. Dann haben sie einen Menschen getroffen. Einen Deutschen.
Der sie illegal über die tschechisch-deutsche Grenze schaffte…
Die Zeitungen im Westen waren voll von dieser Geschichte. Unserer Polizei reichte das aber immer noch nicht. Sie vernichtete Tomins Seminar. Es kam soweit, daß Tomin 1980 nach England emigrierte. Ich habe seinen Seminarteilnehmern angeboten, zu mir zu kommen. Mein Seminar fand, ähnlich wie das von Tomin, jede Woche in meiner Wohnung statt. Aber wir haben stiller gearbeitet als Tomin.
Hatten die Studenten keine Angst?
Ich habe ihnen gesagt: Wer etwas zu verlieren hat, möge nicht kommen. Es sollen nur die kommen, die schon aus der Schule oder Arbeit herausgeworfen worden sind.
Wie ging es mit Ihrem Seminar weiter, als Sie auch Tomins Studenten übernommen hatten?
Zwei Sitzungen fanden ohne Probleme statt, nach der dritten wurde ich zur Polizei vorgeladen. Dort hat man mir nahegelegt, das Seminar einzustellen. Das habe ich nicht gemacht. Das Seminar lief weiter, von Zeit zu Zeit kam die Polizei. Aber dann, im Dezember 1981, war der Umsturz von Jaruzelski in Polen. Unsere tschechische Sicherheitspolizei glaubte, das sei ein guter Augenblick für eine „definitive Lösung“. Alle, die an meinem Seminar teilgenommen hatten, wurden vier Tage ins Gefängnis gesperrt. Ich natürlich auch, meine Frau und unsere vier Töchter. Knapp zwei Wochen nach unserer Entlassung, das war zwischen Weihnachten und Neujahr 1981, kam Jacques Derrida. Er wurde verhaftet, aber erst, als er schon zurück nach Frankreich fliegen wollte. Er saß drei Tage im Gefängnis, und das wurde in Frankreich sehr publik gemacht. Das war eine große Reklame für ihn wie für uns. Obwohl diese drei Tage für ihn sehr unangenehm waren.
Er hat aber einen Vortrag in Ihrem Seminar gehalten?
Ja. Als Derrida kam, stand die Polizei vor unserem Haus. Er mußte sich ausweisen. Er war sehr nervös, konnte seinen Vortrag aber halten. Weil nichts von staatlicher Seite passierte, haben wir für den nächsten Tag noch eine Vorlesung vereinbart. Es kamen noch mehr Leute, darunter auch eine französische Studentin. Nur Derrida kam nicht. Wir suchten ihn im Hotel. Dort hörten wir, daß er nicht wieder aufgetaucht sei. Wir waren sicher, daß er verhaftet war und haben das sofort nach Frankreich gemeldet. Die französische Studentin ging zur französischen Botschaft, ich zu Agence France-Presse.
Wo war Derrida?
Er hat eine tschechische Frau und hat hier in Prag bei einer tschechischen Familie übernachtet. Das wußten wir aber nicht. Wir dachten, daß er verhaftet sei. Er wurde erst 21 Stunden später verhaftet, wir hatten die Verhaftung aber schon nach Frankreich gemeldet. Damals war Mitterrand neu im Amt. Weil die Verhaftungsmeldung so früh kam, blieb der französischen Regierung genug Zeit, eine angemessene Note vorzubereiten. Wenige Stunden nach der tatsächlichen Verhaftung kam schon der Protest aus Frankreich. Deshalb wurde Derrida am dritten Tag freigelassen.
Wäre er sonst länger in Haft geblieben?
Wahrscheinlich. Mindestens eine Woche, zwei Wochen. Die englischen Philosophen wurden dann gleich von ihrer Regierung verwarnt, daß sie in einem ähnlichen Fall nichts tun werde. Deswegen haben die Engländer ihre Aktivitäten gestoppt und abgewartet. Derrida aber wurde in Frankreich als Held gefeiert. Das hatte zur Folge, daß Scharen von französischen Philosophen nach Prag kamen. Zweimal, dreimal im Monat waren dann französische Philosophen hier.
Hatten Sie auch Deutsche zu Gast?
Vierzehn Tage nach Derridas Verhaftung kamen Tugendhat und Habermas. Gleich nach ihrer Ankunft in Prag wurden sie von der deutschen Botschaft verwarnt, ja nicht zu Hejdánek zu gehen. Deshalb mußten wir die Treffen mit ihnen schnell an anderen Stellen organisieren. Jeder hielt zwei Vorträge, außerhalb unserer Wohnung. Das waren die ersten und die letzten Deutschen. Auch aus der DDR kamen einmal zwei junge Leute, um mit mir einen Vortrag des jungen Philosophen Wolfgang Templin zu besprechen. Aber er und die Gruppe, die mit ihm reiste, wurde an der Grenze von der DDR-Polizei festgenommen.
Wer hielt die Kontakte zu den ausländischen Philosophen?
Die Engländer waren, wie gesagt, die ersten. Cathy Wilkes hat das organisiert. Dann hat Roger Scruton, jetzt Vordenker der Neuen Rechten und Ideologe der Konservativen Partei, die Organisation übernommen. Er war ein guter Organisator. Nach ein paar Monaten haben die Engländer eine Gesellschaft zu unserer Unterstützung gegründet, die „Association John Hus“. Die Franzosen sind ihrem Beispiel gefolgt und haben die „Association Jan Hus“ gegründet.
Und die Deutschen haben geschlafen…
Naja, gut. Das war die Ostpolitik damals. Es war nicht opportun, daß die Deutschen so etwas machten. Jedenfalls: Diese beiden Organisationen haben uns wirklich sehr geholfen. Sie haben Geld gesammelt, Bücher gekauft und mitgebracht, das war hervorragend. Sie haben sich auch untereinander abgesprochen, damit nicht fünf Philosophen auf einmal kamen. Einmal kam, ohne es vorher abzusprechen, Paul Ricoeur, ein hervorragender Philosoph. Er hat später in Frankreich Reklame für uns gemacht. Er hat dem Historiker und Religionswissenschaftler Jean Pierre Vernant von uns erzählt, der wurde dann Präsident der „Association Jan Hus“, Derrida Vizepräsident. Von Zeit zu Zeit haben uns die beiden Organisationen auch Italiener und Spanier geschickt. Gunnar Skirbekk, ein Norweger, war hier. Wenn Amerikaner in Europa waren, schickten sie sie nach Prag. Bei uns war z. B. Thomas Nagel. Der Neupragmatiker Richard Rorty war hier, Daniel C. Dennett, die Spitze der analytischen Philosophie, Donald Davidson war hier, in den zehn Jahren waren es fast einhundert westliche Philosophen.
Ein wertvolles historisches Dokument, dieses eine Gästebuch. Bekannte Namen: Timothy Garton Ash, Alain Finkielkraut, Ida Kaznelson… Welche Themen wurden in Ihrem Seminar behandelt?
Wir hatten immer Jahresthemen: Philosophische Logik. Philosophische Kosmologie. Philosophische Politik: „Was das Ist ist und was die Seiendheit ist“. „Seiendheit und Sein“. „Die Möglichkeit, das Seiende zu meinen“. „Sich in sinnliche Erfahrung einfühlen“. „Erkenntnis“. „Apeiron“ von Anaximandros. „Das Mächtige“. Und vieles mehr. Wir haben die Vorträge auf Kassetten aufgenommen, für diejenigen, die zur Nachtschicht mußten. Sie konnten sich die Kassetten anhören und so auf die nächste Sitzung vorbereiten.
Was machen Ihre damaligen Studenten heute?
Markéta Němcová z. B. war nach der Wende Botschafterin in Polen. Jetzt ist sie Assistentin von Václav Havel. Saša Vondra ist der neue tschechische Botschafter in den USA. Ivo Buděl hält jetzt Vorlesungen über Anthropologie in Plzeň. Ivan Mašek ist als Abgeordneter der ODA im Parlament. Jan Ruml, jetzt Innenminister, hütete damals jeden Sommer Kühe in der Slowakei. Im Winter war er hier.
Wann haben Sie mit dem Seminar aufgehört?
1989. Wir haben im Sommer Semesterferien gemacht und im September nur für kurze Zeit angefangen. Die politische Situation spitzte sich zu. Es war eine wütende, offene, lebendige Zeit. Niemand dachte mehr an Seminare.