Philosophieren im Geheimen [příprava]
| docx | pdf | html ◆ rozhovor, německy, vznik: květen 1997 ◆ poznámka: skeny obsahují i průvodní dopis redaktorky Doris Liebermann
text je přípravou k tomuto výslednému dokumentu:
  • Philosophieren im Geheimen

  • Philosophieren im geheimen [příprava] [1997]

    Prof. Ladislav Hejdanek, Initiator und langjähriger Dozent der illegalen Prager „Patocka-Universität“, war Mitbegründer der „Charta '77“ und einer ihrer ersten Sprecher. Als nicht-marxistischer Philosoph war er in der realsozialistischen Tschechoslowakei seit den frühen 50er Jahren mit Berufs- und Publikationsverbot belegt und immer wieder Polizeischikanen ausgesetzt. Die Entstehung der Bürgerrechtsbewegung „Charta '77“ und die unmittelbar auf sie folgenden Repressionen hat er in seinem Buch „Wahrheit und Widerstand“ geschildert (auch auf deutsch erschienen). Dort hat er sich auch mit Fragen von „Christentum und Kommunismus“, „Philosophie und Politik“, „Menschenrechten und Bürgerrechten“ auseinandergesetzt, u. a. auch mit der Vertreibung der Deutschen aus der Nachkriegstschechoslowakei.

    Ladislav Hejdanek, als Philosoph von Jan Patocka und Emanuel Radl geprägt, gehört zur Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder und lehrt heute Philosophie an der Evangelischen theologischen Fakultät der Karls-Universität.

    Herr Professor Hejdanek, wo haben Sie Deutsch gelernt?

    Also, ich muß zugeben: mein Vater war zu einem Viertel Deutscher. Seine Mutter war Halbdeutsche. Sie konnte gut Deutsch. Er wollte, daß ich Deutsch lerne. Als Fünfjähriger mußte ich in einen deutschen Kindergarten, aber nur für vier Monate. Dann bekam ich Scharlach, das war das Ende. Das war gerade im Jahr 1933, dann war Schluß mit der Kollaboration mit den Deutschen (lacht). Aber dann, ja natürlich, mußte ich immer privat Deutsch lernen. Während der Okkupation war es so, daß wir zwölf Stunden pro Woche Deutsch hatten, daneben auch Mathematik, Geographie in Deutsch. Das war sehr gut, aber wir waren natürlich alle wütend. Das dauerte sechs Jahre, dann war Schluß, und ich war lang nicht imstande, etwas zu sprechen. Aber ich habe immer gelesen, und jetzt, nach der Wende, konnte ich endlich wieder sprechen. Das letzte mal war ich im Ausland, im Westen, im Jahre 1947. Dann erst 1990 wieder. Dazwischen war ich nur in der DDR. Das war mein einziges Ausland.

    Ich bin über Jahre hin in Kontakt mit Deutschen gewesen. Das waren nicht nur Christen, natürlich auch, aber es gibt auch Christen, mit denen ich keine guten Erfahrungen gemacht habe. Mit den (Ost) deutschen Dissidenten in Kontakt zu kommen, das war sehr schwierig. Die Kontakte wurden von unserer und von der DDR-Polizei scharf kontrolliert. Aber jedenfalls, gewisse Kontakte gab es. In meinem Fall mehr zu Christen, zu Pfarrern.

    Sie haben Philosophie studiert. Philosophie im realexistierenden Sozialismus, das bedeutete: Marxismus-Leninismus…

    Ich habe 1946 mein Abitur gemacht. Ich habe erst ein Jahr Mathematik studiert, dann Philosophie. Ich war zunächst an mathematischer Logik interessiert, stellte aber fest, daß bei dem Mathematik-Studium nichts dazu angeboten wurde. An der Philosophischen Fakultät dagegen waren damals vier Dozenten, die über Logik lasen. Einer von ihnen war Jan Patocka, später Mitbegründer der „Charta '77“, der 1977 nach einem mehrtägigen Polizeiverhör starb.

    Patocka war nach dem Krieg Privatdozent, bis zu seinem Rausschmiß aus der Universität im Jahre 1948. Weil er als Privatdozent keine Seminare anbieten konnte, haben wir in seinem Proseminar die „Logischen Untersuchungen“ von Husserl gelesen. Das hat mich geprägt. Dort habe ich entdeckt, daß mich die philosophische Logik mehr interessiert als die mathematische. Ich fing 1947 an der Philosophischen Fakultät an, aber schon im Februar 1948 war der kommunistische Putsch, die „Machtergreifung“, wie es im realsozialistischen Sprachgebrauch hieß. Das war schlimm. Mein zweites Fach war Soziologie. Das war dann nur noch Marxismus-Leninismus.

    Sie haben 1952 Ihre philosophische Dissertation zum Thema „Konzeption der Wahrheit und einige ihrer ontologischen Voraussetzungen“ aber noch bei einem sogenannten „bürgerlichen“ Professor, J. B. Kozak, geschrieben.

    Ich war einer seiner letzten Schüler. Die meisten fingen an, zu den Marxisten überzulaufen. Ich habe noch ganz ordentlich mein Studium bei ihm beendet. Ich muß sagen, ich habe als Christ, der sozialistischen Ideen gegenüber durchaus aufgeschlossen war, bei den kommunistischen Professoren einen gewissen Respekt erweckt. Meine Mitstudenten haben zweimal versucht, mich vom Studium zu relegieren. Aber es waren die kommunistischen Professoren Rieger und Svoboda, die das verhinderten. Ich konnte das Studium zu Ende führen. Dann aber war für lange Jahre Schluß.

    Was heißt das?

    Ich durfte nicht als Philosoph arbeiten. Ich durfte in überhaupt keiner akademischen Institution arbeiten. Nach zwei, drei Monaten habe ich im Bauwesen angefangen. Ich habe Ausgrabungen gemacht, sechs Meter tief in der Erde. Ich wurde zum Militär eingezogen, danach konnte ich wieder nichts finden. Nach ein paar Monaten konnte ich schließlich in der Dokumentationsabteilung eines medizinischen Forschungsinstitut beginnen. Dort war ich zwölf Jahre. Dann kam das Jahr 1968, und ich wurde im Philosophischen Institut als Dozent angestellt, mit noch einem Kollegen, der ebenso wie ich kein Marxist war. Das sollte ein Zeichen dafür sein, daß jetzt Schluß sei mit der ausschließlich marxistisch dominierten Philosophie. Das dauerte nicht ganz drei Jahre, dann wurde ich rausgeworfen. Aber vor mir wurden noch fast alle Marxisten entlassen, als sogenannte Revisionisten und Opportunisten. Dann arbeitete ich ungefähr fünf Jahre als Nachtwächter in einem Literarischen Museum. Als dort ein neuer Direktor kam, wurde ich wieder rausgeworfen. Schließlich kam ich zu einer Baufirma, dort habe ich als Wächter gearbeitet. Wenig später habe ich ein paar Prüfungen abgelegt und mich zum Heizer qualifiziert. Diese Arbeit konnte ich nicht weitermachen, weil ich Probleme mit der Wirbelsäule hatte. So kam ich in ein Ersatzteillager. Während all dieser Zeit wurde ich von der Polizei bewacht.

    Tut es Ihnen leid um diese Jahre?

    Ja. Ich will heute nicht mehr so sehr an sie zurückdenken. Ich bin eher bereit, mich an komische Situationen und Anekdoten zu erinnern.

    Sie hätten in der Zeit eine schöne Universitätslaufbahn machen können….

    Ja. Aber mit Patocka war es doch genauso. Was sollte ich, ein Kleiner, tun? Patocka hat einmal nach 1948 so ein bißchen frech zu Mukarovsky, das war der erste kommunistische Rektor der Universität, gesagt: Was machen die Adler, und was sollen wir kleinen Vögelchen machen …? Ich kann jetzt etwas ähnliches sagen. Patocka war unser größter Philosoph nach dem Zweiten Weltkrieg. Er wurde ungefähr zwei Jahre nach seiner Habilitation aus der Philophischen Fakultät herausgeworfen, als die Deutschen unsere Universitäten schlossen. Nach 1945 fing er wieder an der Universität an. Aber weil er kein Opportunist war und sich nicht als Marxist verstellen wollte, blieb er Privatdozent. Bis 1948, dann wurde er zum zweiten Mal aus der Philosophischen Fakultät herausgeworfen. Während des Prager Frühlings wurde er wieder zum ordentlichen Professor berufen, aber dann, nach vier Jahren an der Universität, wurde er zum dritten Mal herausgeworfen. Was soll also so ein kleiner Vogel wie ich sagen, wenn ein solcher Adler eine solche Lebensgeschichte hatte? Das war immer so.

    Als nicht-marxistischer Philosoph konnten Sie nur im Untergrund wirken. Bitte erzählen Sie etwas zur „Patocka-Universität“, wie Ihr illegales philosophisches Seminar auch genannt wurde. Wie ist diese Universität entstanden?

    Darf ich Ihnen ein Märchen erzählen? (lacht). Es war einmal ein Schüler des Philosophen Milan Machovec, Julius Tomin. Das war ein „Halb narr“. Er hatte fast immer nur „dumme“ Ideen. Interessant aber war, daß sich viele seiner Ideen früher oder später als produktiv erwiesen haben.

    Zum Beispiel?

    Zum Beispiel hatte er 1979 die Idee, an mehrere europäische Universitäten zu schreiben. Niemand wußte dort, wer Tomin war. Aber in Oxford, ich weiß auch nicht, warum, kam der Brief in die Hände von Anthony Kenny, damals Master am Balliol College. Er gab den Brief einer seiner Dozentinnen, Cathy Wilkes, und bat sie, eine Antwort zu schreiben. Was stand in Tomins Brief? Es stand darin, daß wir als Philosophen jetzt in einer schwierigen Situation sind, und daß es schön wäre, wenn die westeuropäischen Philosophen der Philosophie bei uns in den kommenden schweren Jahren helfen würden, zu überleben. Der Philosophie helfen würden, zu überleben, nicht den Philosophen! Das Beste sei, wenn sie von Zeit zu Zeit nach Prag kämen und in Privatseminaren Vorlesungen halten würden. Er selbst habe mit so einem Privatseminar angefangen und lade sie ein. Das war alles.

    Was passierte?

    Es kamen wirklich englische Philosophen nach Prag. Tomin war bereit, englischen Journalisten alles über seine Aktivitäten zu erzählen, und zwar in schroffen, nicht gerade diplomatischen Formulierungen. Die Interviews mit Tomin wurden in der „Times“ und anderen bekannten Zeitungen veröffentlicht. Das wurde bei uns als staatsfeindliche Provokation verstanden. Bis dahin hatte die Polizei nicht eingegriffen, es gab auch vor Tomin schon solche Seminare. Ich selbst hatte zu der Zeit drei.

    Wann genau hat es mit diesen illegalen Seminaren angefangen? Gleich nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“?

    Eigentlich ja. Ich war aber auch schon 1946 Teilnehmer an einem Privatseminar bei Patocka. Er war sich nicht sicher, ob ihm das Thema nicht angelastet werden könnte. Wir lasen dort Heideggers „Vom Wesen der Wahrheit“ . Heidegger, Nazismus, und das im Jahre 1946 - also es war besser, so etwas im Geheimen zu machen. Ich war damals der Jüngste in diesem Seminar. Es gab bei uns also schon eine lange Tradition mit diesen Seminaren. Ich nenne sie nicht „illegal“, ich nenne sie „privat“. In meinen Augen waren sie legal. Sie waren illegal in der Optik des Staates.

    Wir haben dann im Laufe des Jahres 1969 mit privaten Seminaren angefangen, an vielen Orten. Aber Tomin kam mit einem neuen Gedanken: das Seminar öffentlich abzuhalten, jede Woche in seiner Wohnung oder an einem anderen bekannten Platz. Und mit Philosophen aus dem Westen. Er hat darüber gesprochen, und es wurde im Westen publiziert. Das wurde bei uns als Provokation verstanden. Die Polizei kam und versuchte alles, um Tomins Seminar zu zerschlagen. Kaum hatte eine Sitzung angefangen, kam die Polizei. Die Seminarteilnehmer wurden für mindestens einen Tag, meistens aber zwei, auch mal vier Tage ins Gefängnis gesperrt. Anthony Kenny, der Dean von Oxford, kam auch mit seiner Frau nach Prag. Die Polizei nahm beide fest und setzte sie samt Koffern irgendwo im Wald aus. Sie irrten zwei Stunden herum und wußten überhaupt nicht, wo sie waren. Dann haben sie einen Menschen getroffen. Einen deutschen.

    Von der tschechischen Polizei illegal über die tschechisch-deutsche Grenze geschafft…

    Die Zeitungen im Westen waren voll von dieser Geschichte. Und die Polizei mußte immer noch mehr tun. Es kam so weit, daß Tomin ganz depressiv wurde. Er kam zu mir und sagte: „Wir müssen etwas unternehmen. Wir müssen alle einen Protest unterschreiben, was meinst du?“ Ich habe gesagt, das ist Unsinn, wer wir so eine Resolution unterschreiben? Natürlich, ich werde das unterschreiben, und noch einige. Aber wir sind unbekannt. Die bekannten Philosophen sind entweder aus der Partei oder aus der Akademie geflogen, sie sind schon sehr schlimm dran und wollen ihre Lage nicht noch mehr verschlimmern. Oder sie sind an ihren Arbeitsplätzen geblieben, und dann werden sie erst recht nicht unterschreiben. Das ist ein Unsinn.

    Tomin wurde wütend und ging weg, und mir war nicht ganz klar, was ich tun sollte. Ich hatte damals drei Seminare, heimlich. Meine Frau wurde verhört, und die Polizei sagte: „Ihr Mann muß Schluß damit machen!“ Also sie wußten es, daß ich diese Seminare hatte, aber sie haben nichts Spektakuläres dagegen gemacht, weil wir es eben leise machten. Tomin machte es eben so, und die Polizei tat alles, um sein Seminar zu vernichten. Es kam soweit, daß Tomin ganz depressiv wurde und 1980 nach England emigrierte. Ich habe seinen Seminarteilnehmern angeboten, zu mir zu kommen. Mein Seminar fand, ähnlich wie das von Tomin, jede Woche in meiner Wohnung statt. Aber wir haben stiller gearbeitet als Tomin.

    Hatten die Studenten keine Angst?

    Ich habe ihnen gesagt: wer etwas zu verlieren hat, möge nicht kommen. Es sollen nur die kommen, die schon aus der Schule oder Arbeit herausgeworfen worden sind. Also es kamen einige von Tomins Studenten, einige von meinen, die schon zu diesen drei Seminaren gekommen waren. Es kamen auch ein paar neue Leute, darunter natürlich auch einige, die von der Polizei geschickt worden waren.

    Waren die Teilnehmer überwiegend Philosophiestudenten, die vom Studium relegiert worden waren?

    Nur einige. Die meisten waren junge Leute, die sich für Philosophie interessierten, die aber keine Lust hatten, die offizielle Philosophie zu studieren. Sie kamen gleich zu mir. Es waren nicht viele. In den besten Jahren waren es 40, 50 Teilnehmer. Niemals waren alle da. Es waren auch Leute darunter, die im Schichtdienst arbeiten mußten. Ende der 80er Jahre waren es auch mal nur zehn oder acht Teilnehmer.

    Wie ging es mit Ihrem Seminar weiter, als Sie auch Tomins Studenten übernommen hatten?

    Zwei Sitzungen fanden ohne Probleme statt, nach der dritten wurde ich zur Polizei vorgeladen. Dort hat man mir nahegelegt, das Seminar einzustellen. Das war schon in der Zeit, als Tomins Seminar nicht mehr funktionierte. Er war noch hier, aber schon zur Emigration entschlossen. Das war eine Situation, die in vieler Hinsicht für mich positiv war, weil sie nach dem Fall Tomin war. Ich konnte der Polizei schon beim ersten Verhör sagen: „Wenn das Seminar verboten ist, dann sagen Sie mir, nach welchem Paragraphen. Geben Sie mir ein Papier mit Unterschrift und Stempel. Ich werden das Seminar einstellen und gegen den Bescheid schriftlich Widerspruch einlegen.“ Ich habe niemals so ein Papier bekommen. Ich habe auch gesagt: „Geben Sie uns eine legale Plattform, dann machen wir das Seminar nicht illegal, wie Sie sagen.“ Es gab nämlich viele Jahre in Jirchare, unter der Schirmherrschaft von Hromadka, an der Comenius-Fakultät ökumenische Seminare, und so etwas hätten wir auch wieder tun können. Die Polizei hat mit mir darüber diskutiert, ich habe Bedingungen genannt, sie haben gesagt: „Das können Sie nicht allein machen, da müssen noch weitere Leute hinzugezogen werden.“ „Gut“, habe ich gesagt, „ich werde Machovec und Kosik dazu einladen.“ Ich ging zu Kosik, redete mit ihm darüber, er hat die Idee natürlich nicht akzeptiert: „Unsinn“, sagte er, „die Polizei duldet so etwas nicht.“ Er hatte Recht. Aber ich habe mit ihnen doch einen Kuhhandel geführt. Also, das Seminar lief weiter, von Zeit zu Zeit kam die Polizei. Aber dann, im Dezember 1981, war der Umsturz von Jaruzelski in Polen. Unsere tschechische Sicherheitspolizei glaubte, das sei ein guter Augenblick für eine „definitive Lösung“. Alle, die an meinem Seminar teilgenommen hatten, wurden vier Tage ins Gefängnis gesperrt. Ich natürlich auch, meine Frau und unsere vier Töchter. Knapp zwei Wochen nach unserer Entlassung, das war zwischen Weihnachten und Neujahr 1981, kam Derrida. Sie kennen diese Geschichte?

    Nicht im Detail.

    Er wurde verhaftet, aber erst, als er schon zurück nach Frankreich fliegen wollte. Er saß drei Tage im Gefängnis, und das wurde in Frankreich sehr publik gemacht. Das war eine große Reklame für ihn wie für uns. Obwohl diese drei Tage für ihn sehr unangenehm waren.

    Er hat aber einen Vortrag in Ihrem Seminar gehalten?

    Ja. Als Derrida kam, stand die Polizei vor unserem Haus. Er mußte sich ausweisen. Er war sehr nervös, konnte seinen Vortrag aber halten. Weil nichts von staatlicher Seite passierte, haben wir für den nächsten Tag noch eine Vorlesung vereinbart. Es kamen noch mehr Leute, darunter auch eine französische Studentin. Nur Derrida kam nicht. Wir suchten ihn im Hotel. Dort hörten wir, daß er nicht wieder aufgetaucht sei. Wir waren sicher, daß er verhaftet war und haben das sofort nach Frankreich gemeldet. Die französische Studentin ging zur französischen Botschaft, ich zu Agence France Presse.

    Wo war Derrida, als Sie ihn im Hotel nicht finden konnten?

    Er hat eine tschechische Frau, und hat hier in Prag bei einer tschechischen Familie übernachtet. Das wußten wir aber nicht. Wir dachten, daß er verhaftet sei. Er wurde erst 21 Stunden später verhaftet, wir hatten die Verhaftung aber schon nach Frankreich gemeldet. Damals war Mitterand neu im Amt. Weil die Verhaftungsmeldung so früh kam, blieb der französischen Regierung genug Zeit, eine angemessene Note vorzubereiten. Wenige Stunden nach der tatsächlichen Verhaftung kam schon der starke Protest von der französischen Regierung. Deshalb wurde Derrida am dritten Tag freigelassen.

    Wäre er sonst länger in Haft geblieben?

    Wahrscheinlich. Mindestens eine Woche, zwei Wochen. Die englischen Philosophen wurden dann gleich von ihrer Regierung verwarnt, daß sie in einem ähnlichen Fall für sie nichts tun werde. Deswegen haben die Engländer ihre Aktivitäten gestoppt und abgewartet. Derrida aber wurde in Frankreich als Held gefeiert. Das hatte zur Folge, daß Scharen von französischen Philosophen nach Prag kamen. Zweimal, dreimal im Monat waren dann französische Philosophen hier.

    Hatten Sie auch Deutsche zu Gast?

    Vierzehn Tage nach Derridas Verhaftung kamen Tugendhat und Habermas. Gleich nach ihrer Ankunft in Prag wurden sie von der deutschen Botschaft verwarnt, ja nicht zu Hejdanek zu gehen. Deshalb mußten wir die Treffen mit ihnen schnell an anderen Stellen organisieren. Jeder hielt zwei Vorträge, außerhalb unserer Wohnung. Das waren die ersten und die letzten Deutschen. Westdeutschen. Auch aus der DDR kamen einmal zwei junge Leute, um mit mir einen Vortrag des jungen Philosophen Wolfgang Templin zu besprechen. Aber er und die Gruppe, die mit ihm reiste, wurde an der Grenze von der DDR-Polizei festgenommen.

    Wer hielt die Kontakte zu den ausländischen Philosophen?

    Die Engländer waren wie gesagt, die ersten. Cathy Wilkes hat das organisiert. Dann hat Roger Scruton, jetzt Vordenker der Neuen Rechten und Ideologe der Konservativen Partei, die Organisation übernommen. Er war ein guter Organisator. Nach ein paar Monaten haben die Engländer eine Gesellschaft zu unserer Unterstützung gegründet, die „Association John Hus“. Die Franzosen sind ihrem Beispiel gefolgt und haben die „Association Jan Hus“ gegründet.

    Und die Deutschen haben geschlafen.

    Naja, gut. Das war die Ostpolitik damals. Es war nicht opportun, daß die Deutschen so etwas machten. Jedenfalls: diese beiden Organisationen haben uns wirklich sehr geholfen. Sie haben Geld gesammelt, Bücher gekauft und mitgebracht, das war hervorragend. Sie haben sich auch untereinander abgesprochen, damit nicht fünf Philosophen auf einmal kamen. Ganz nebenbei fingen auch die Holländer an, uns zu unterstützen. Es waren nicht viele Holländer hier, aber wenn sie kamen, dann nicht nur für einen Abend, sondern für mehrere. Sie haben philosophische Intensivkurse gehalten. Das war sehr gut.

    Einmal ganz am Anfang kam, ohne es vorher abzusprechen, Paul Ricoeur, ein hervorragender ganz Philosoph. Er hat später in Frankreich Reklame für uns gemacht. Er hat dem Historiker und Religionswissenschaftler Prof. Jean-Pierre Vernant von uns erzählt, der wurde dann Präsident der „Association Jan Hus“. Derrida Vizepräsident. Von Zeit zu Zeit haben uns die beiden Organisationen auch Italiener und Spanier geschickt. Gunnar Skirbekk, ein Norweger war hier, er hat bei Suhrkamp ein Buch über Wahrheitstheorien veröffentlicht. Wenn Amerikaner in Europa waren, schickten sie sie nach Prag. Bei uns war z. B. Thomas Nagel. Der Neupragmatiker Richard Rorty war hier. Daniel C. Dennett war hier. Die Spitze der analytischen Philosophie, Donald Davidson, war hier. In den zehn Jahren waren es fast einhundert westliche Philosophen.

    Haben Sie ein Gästebuch angelegt?

    Sogar zwei. Aber wir haben nur noch eins. Wahrscheinlich hat die Polizei das andere beschlagnahmt.

    Ein wertvolles historisches Dokument, dieses eine Gästebuch. Bekannte Namen: Timothy Garton Ash, Alain Finkielkraut, Ida Katznelson… Welche Themen wurden in Ihrem Seminar behandelt?

    Wir hatten immer Jahresthemen: Philosophische Logik. Philosophische Kosmologie. Philosophische Politik. Ich hole die Kassetten und werde es Ihnen übersetzen: „Was das Ist ist und was die Seiendheit ist“. „Seiendheit und Sein“. „Die Möglichkeit, das Seiende zu meinen“. „Sich in sinnliche Erfahrung einfühlen“. „Erkenntnis“. „Apeiron“ von Anaximandros. „Das Mächtige“. Und vieles mehr. Wir haben die Vorträge auf Kassetten aufgenommen, für diejenigen, die zur Nachtschicht mußten. Sie konnten sich die Kassetten anhören und so auf die nächste Sitzung vorbereiten.

    Was machen Ihre damaligen Studenten heute?

    Marketa Nemcova z. B. war nach der Wende Botschafterin in Polen. Jetzt ist sie Assistentin von Vaclav Havel. Sasa Vondra ist der neue tschechische Botschafter in den USA. Ivo Budil hält jetzt Vorlesungen über Anthropologie in Plzen. Ivan Masek ist als Abgeordneter der ODA im Parlament. Jan Ruml, bis Mai 1997 Innenminister, hütete damals jeden Sommer Kühe in der Slowakei. Mit einem großen Hund. Im Winter war er hier.

    Wann haben Sie mit dem Seminar aufgehört?

    1989. Wir haben im Sommer Semesterferien gemacht und im September nur für kurze Zeit angefangen. Die politische Situation spitzte sich zu. Es war eine wütende, offene, lebendige Zeit. Niemand dachte mehr an Seminare. Haben Sie 1989 gleich eine Professur bekommen? Ich muß etwas ausholen. Als 1970 klar wurde, daß ich das Institut der Akademie verlassen muß, sollte ich in vierzehn Tagen meine Habilitationsschrift einreichen. Das war nicht meine Idee, sondern die eines Alttestamentlers an der Theologischen Fakultät (lacht). Ich habe es in drei Wochen geschafft, aber inzwischen waren neue Opportunisten dort, die das Habilitationsverfahren vereitelt haben. Zwischen 1970 und 1989 lag die Habilitationsschrift auf Eis. Ich bekam keine Antwort, sie haben sie als nichtexistent betrachtet. Nach 1989 wurde ich dann rehabilitiert, habe meine Professur an der Philosophischen Fakultät gemacht und wurde in kürzester Zeit zum Dozenten für Philosophie an der Theologischen Fakultät ernannt. Ich bin froh, daß ich dort bin. Es sind viele bekannte Leute dort, auch immer noch problematische, belastete Leute, aber ich fühle mich nicht geduldet dort. Es ist ungefähr fifty fifty. An der Philosophischen Fakultät, wo ich auch bis 1996 tätig war, wo ich gar zum Professor ernannt wurde, ist es schlimm. Es sind jetzt mehrere Leute dort, die vor der Wende dort nicht arbeiten durften. Sie müssen sich sehr anstrengen, sie haben kein Recht, etwas Neues zu machen. Dort ist eine große Mafia, die alles wie zu alten Zeiten machen will. Natürlich war niemand Kommunist, angeblich, das war alles nur formell, sagen sie, und sie wollen die alte Atmosphäre beibehalten. Ohne Marxismus, aber immer dasselbe.

    Stammen Sie aus einer christlichen Familie?

    Ja, von Seiten meiner Mutter. Meine Mutter sagte immer, daß wir in unserer Familie Toleranzprotestanten sind. Ich habe niemals nachgeprüft, ob es wirklich so ist. Ich wurde von demselben Pfarrer getauft, der meine Frau und mich später in Prag-Vinohrady traute, erst dann kam ich in die Gemeinde von Prag-Vrsovice. Gerade weil ich von Anfang an ein böhmischer Bruder war, bin ich tief irritiert, nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch jetzt, daß sich unsere Kirche eigentlich nicht mit den Leuten, die kollaboriert haben, auseinandersetzt.

    Bei uns auch nicht. Wenn ich „uns“ sage, meine ich jetzt DDR… In Thüringen war ja sogar der Bischof inoffizieller Mitarbeiter der Stasi.

    Hier fast der ganze Synodialrat. Ich habe auch darüber geschrieben, und es ist tschechisch in einem Buch herausgegeben worden, auch deutsch in einer Übersetzung.

    In Ihrem Buch „Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe“? Auf deutsch 1988 im Kirchheim Verlag erschienen?

    Ja. Natürlich hat niemand reagiert, nur ich bin jetzt nicht mehr stubenrein genug.

    In diesem Buch gibt es eine sehr scharfe Kritik des Synodialrats, des Synodialseniors, und des Synodialkurators. Mit allen diesen Leuten war ich sehr gut bekannt. Das war sehr schlimm für mich. Von der Seite meiner Mutter wurde ich sozusagen ideologisch bearbeitet von Anfang an, daß wir Protestanten hier in diesem katholischen Land die Besten sind. Und ich muß sagen, es war sehr schwierig für mich zu erkennen, daß das nicht wahr ist. Das war vielleicht das Schlimmste, was ich erfahren mußte in meinem Leben. Ich war so stolz darauf. Und ich glaube, daß gerade deswegen, weil die Kirche und die Kirchenleute keine kritische Reflexion ausgeübt haben, nicht nur öffentlich, sondern auch nicht für sich, daß die Kirche jetzt in einer tiefen Krise steckt. Das wird wahrscheinlich zwei Generationen dauern, bis sich das verändert. Die Krise ist viel schlimmer als in der katholischen Kirche. Die katholische Kirche ist auch in einer sehr schlimmen Lage, was die Hierarchie betrifft. Es gibt nur Ausnahmen wie Vaclav Maly, Charta-77-Signatar und jetzt Weihbischof von Prag, die eine andere Haltung einnehmen. Doch die katholischen Laien sind aktiv, die katholische Kirche ist lebendig. Unsere Kirche, die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder, ist dagegen so etwas Konservatives, besser gesagt: Oberflächliches. Wenn der Konservatismus echt ist, tief ist, habe ich nichts dagegen. Mit Leuten, die ihn vertreten, kann man diskutieren. Aber mit oberflächlichen kann man das nicht. Und diese Oberflächlichkeit ist, glaube ich, das Resultat dieser schlimmen Epoche nach 1948. Von außen betrachtet, war es für die Katholiken in den 50er Jahren noch schlimmer…

    diese Christenverfolgungen …?

    Ja, diese Verfolgungen waren wirklich schrecklich. Aber gerade dadurch wurden die Katholiken als normaler Teil der Gesellschaft akzeptiert. Bei uns war die Haltung zu den Katholiken vorher immer problematisch. Sie waren mit dem alten Österreich verbunden, wirklich, schon rein äußerlich. Deshalb wurden sie in der Ersten Republik als Verdächtige betrachtet, ebenso wie die Deutschen und wie die Arbeiter. Das waren die drei großen verdächtigen Gruppen der Gesellschaft. Das war eigentlich eine katastrophale Haltung. Und gerade durch die Verfolgungen in den 50er Jahren waren die Katholiken innerlich vorbereitet für die schlimmen Tage der sogenannten „Normalisierungszeit“ nach 1968. Aber weil die Protestanten eine Minderheit waren, sollten sie in den 50er und 60er Jahren als Vorzeigeobjekte für die Welt, für Europa, fungieren. Sie blieben unbehelligt und waren auf die geistige Lage der „Normalisierungszeit“ überhaupt nicht vorbei. Deswegen  war unsere Kirche in den 70er und 80er Jahren der Situation nicht gewachsen. Der Synodalsenior Hajek, er ist jetzt schon gestorben, ursprünglich aus Brünn stammend, hat immer gesagt, und alle haben es nachgeahmt: „Wir sind doch Theologen. Wir verstehen die Politik nicht. Wir verstehen die Ökonomie nicht. Wir wollen nur das Evangelium predigen.“ Und fast die ganze Kirche hat diese Haltung akzeptiert. Und genauso wollen sie jetzt weitermachen. Sie wollen nur das reine Evangelium. Ohne Politik.

    Das kommt mir bekannt vor …

    Das ist international, nicht wahr? Ja, aber in Deutschland galt die lutherische Ideologie der Zwei-Reiche-Lehre. Hier war es doch anders. Hier war es ein Opportunismus der Zeit. Weil sowohl das Hussitentum als auch die Brüder-Unität war immer - in der Brüder-Unität war es am Anfang solch eine kleine Seite, aber die wurde sehr scharf kritisiert durch die Humanisten, wie Blahoslav, er schrieb ein Buch gegen die Misomusen. Immer war es gut gesehen, daß die Christen, wenn sie überhaupt noch was zu sagen haben, es nicht in die Gemeinde hineinsagen sollen, sondern hinein in die Welt. Das war eine Tradition hier, das war anders als das Lutheranertum. Natürlich, bei Luther ist es auch anders, aber die ersten Lutheraner haben damit angefangen. Hier war es eigentlich schlimmer. Die deutschen Christen waren doch Aktivisten. Hier waren es keine Aktivisten. Es ist interessant: die meisten Pfarrer, die kollaboriert haben, haben nichts unterschrieben. Man wollte nicht, daß sie etwas unterschreiben. Wir kennen jetzt die Anweisungen für die Leute: daß die protestantischen Pfarrer sehr vorsichtig sind, man soll sie nicht zwingen, sie werden selber mitarbeiten. Es gibt gewisse Relikte eines moralischen Bewußtseins. Also etwas unterschreiben, eine Mitarbeit unterschreiben, das ist nicht gut. Aber freundlich mit der Staatspolizei sprechen, warum nicht?

    [poznámka na okraji, zřejmě redaktorky: „Das ist schwer zu verstehen.“]

    Welche Perspektiven sehen Sie für die Zukunft?

    Na, ich glaube, es dauert mindestens zwei Generationen, bis diese Krise überwunden ist. Natürlich gibt es ökumenische Perspektiven. Eigentlich ist es jetzt nicht anders möglich, als mit den Katholiken zusammenzuarbeiten. Das mache ich schon seit den 60er Jahren. Die Grenzen verlaufen jetzt nicht zwischen den Konfessionen, sondern durch die Konfessionen hindurch. Jedenfalls müssen wir neue Worte finden, neue Gedanken, und wenn nicht, dann wird es mit dem Christentum ein Ende haben. Ich sage es den Studenten ganz klar: „Wenn Sie nicht neu denken, werden sie zum Salz, mit dem man nicht salzen kann…“ Die Jungen, die eigentlich fachlich sehr gut sind, sind, so scheint mir, nicht gut im Glauben verankert. Sie sind ängstlich. Und sie wollen überhaupt nichts mit der Politik, mit der öffentlichen Arbeit zu tun haben.

    Ist das die allgemeine Stimmung hier im Land?

    Das betrifft ja nicht nur Tschechien. Nach dem Krieg war es z. B. auch in Holland so. Ich habe einen guten Freund in Holland, Theo de Boer, jetzt Professor an der Freien Uni in Amsterdam. Er hat gesagt: „Nach dem Krieg haben wir in der Familie 20 Jahre überhaupt nicht über die deutsche Okkupation gesprochen. Warum? Das frage ich mich. Meine Eltern haben darüber überhaupt nicht gesprochen.“ Und zwar auch zu Hause nicht. Und ich muß sagen, auch ich bin nicht geneigt, darüber zu sprechen, und wenn, am ehesten über die anekdotischen Dinge.

    Jürgen Fuchs sagt, das sei der depressive, wegschiebende Anteil in uns, typisch für post-traumatische Situationen.

    Das ist zu hart.

    Also warum? Warum ist das so?

    Warum sollen wir darüber sprechen, das ist die Frage?

    Wir hatten hier einen Mann namens …. Kraus. Er ist schon gestorben. Er ist am Kriegsende aus dem KZ zurückgekehrt. Er hat ein kleines Büchlein geschrieben mit dem Titel „Unfreiheit, Hunger und Tod“.

    Es war damals atemberaubend für uns junge Leute, das zu lesen. Es ist dort ein gewisses Ressentiment, wie soll ich es sagen? Es ist unmöglich, jetzt in der offenen Welt zu leben. Die Welt ist so grob, so verlogen, damals im Lager war alles klar. Damals konnten wir als Menschen leben und sterben. Das hat er dort geschrieben. In diesen extremen Situationen war alles klar. Und jetzt im täglichen Leben ist es nicht mehr so einfach. Es ist alles nicht mehr schwarz und weiß. Jetzt ist es immer so halb, oder viertel, oder dreiviertel. Man will darüber nicht sprechen. Es gibt auch etwas sehr Positives in solch extremen Situationen. Darüber schreibt auch Patocka. Er wurde zum Teil inspiriert von Ernst Jünger, und zum Teil von Teilhard de Chardins Tagebücher aus der Zeit des Krieges. Im letzten Kapitel der „Ketzer-Essays“ schreibt Patocka, daß es etwas existentiell Menschliches gibt, das nur in einem Krieg erlebt werden kann.

    Das ist sehr zugespitzt gesagt, und natürlich wurde er auch kritisiert deswegen. Aber es gibt so etwas. Man will nicht darüber sprechen, nicht nur, weil man sich diese schlimmen Dinge nicht mehr ins Gedächtnis rufen will, sondern es ist etwas Heiles, es ist etwas so Großes damit verbunden, daß man darüber nicht sprechen will. Auch das ist ein Grund. Es ist besser, sich an die Anekdoten und die heiteren Situationen zu erinnern. Aber die ernsten Dinge will man nicht zitieren. Das ist auch ein Grund. Nicht nur, daß man der Geschichte ausweichen will. Auch ein Psychologe muß das ernst nehmen.

    Wie sehen Sie dann die Zukunft für die ehemaligen Charta-Leute?

    Die eine Hälfte wird aussterben, die andere wird alles vergessen. Es werden neue Kader kommen, die überhaupt nichts über die Charta wissen, aber sie werden wieder so etwas machen. Vielleicht ist die Geschichte ein bißchen einfacher als wir denken.

    Jürgen Fuchs und ich waren am 10. Januar zur Feier von „20 Jahren Charta 77“ in Prag. Wir waren überrascht, daß alle Menschenrechtsgruppen hier offenbar in den Händen der Amerikaner sind. Das in so einer Stadt, von der solche Impulse ausgingen.

    Also ich bin in Distanz zu diesen Gruppen, ich weiß nichts genaues. Es ist mir ein bißchen peinlich, mit ihnen zusammenzuarbeiten, weil sie das alles als Erfüllung ihres Lebens nehmen, oder als Job …

    Ja fast ein bißchen wie Sekten, hat man den Eindruck …

    Ja, gewisse Sekten gibt es, das gibt es immer, wenn sich solche kleinen Gruppen formen. Dann kommt es zu dieser Ghetto-Reaktion, besonders in solchen Fällen, wenn sie unter einem gewissen Druck stehen, und sei es auch nur ein psychischer Druck. Diese Leute arbeiten eigentlich dran, daß der dissidentische Geist zu einem Museums-Stück wird und alles Lebendige wegfällt. Ähnlich, wie es die offiziellen Kreise machen, nur auf andere Weise.

    Gibt es tschechische Menschenrechtsgruppen?

    Ja, es gibt die Helsinki-Gruppe, ich glaubte, daß Sie über diese sprechen, das ist so eine amerikanisch dominierte. Und jetzt, in den letzten Tagen, stand in den Zeitungen, daß Amnesty International bei uns die Arbeit einstellt, weil sie kein Geld haben. Warum? Weil Amnesty nicht amerikanisch war.

    Das ist aber traurig. Sind Sie bei einer Gruppe engagiert?

    Nein, ich habe keine Nerven dazu.