Über das Nicht-sein der Wahrheit. Zur Frage der Nicht-gegenständlichkeit und deren „Ortes“
| docx | pdf | html ◆ článek | přednáška, německy, vznik: 6. 5. 1993 ◆ poznámka: Ursprünglich im Wissenschaftskolleg zu Berlin am 6. Mai 1993 als Vortrag gehalten (pozn. aut.).
  • in: Martin Prudký (vyd.), Landgabe. Festschrift für Jan Heller zum 70. Geburtstag, Praha – Kampen: OIKOYMENH – Kok, 1995, str. 276–293
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  • O nejsoucnosti pravdy (k otázce nepředmětné skutečnosti)

  • Über das Nicht-Sein der Wahrheit

    Zur Frage der Nicht-gegenständlichkeit und deren „Ortes“ [1993]1

    1.

    Es gibt eine ziemlich alte, jedoch lange nicht recht verstandene Überlieferung in der tschechischen Geistesgeschichte, die – sicher nicht programmatisch, sehr oft überhaupt unbewußt – ganz ungriechisch, ja sogar gegen‑griechisch war und ist. Es ist schon eine lange Zeit vorbei, wo sie sich – ganz am Anfang der sog. Vor‑Reformation oder besser „ersten Reformation“ – als eine die Massen bewegende Idee erweisen konnte. Sehr bald wurde jedoch schon damals die Idee zur bloßen Formel, zum Sprichwort, zu einem Slogan. Nach dem ersten Weltkrieg hat man an sie an der Präsidentenflagge gedenken wollen, und dort blieb sie auf bloße zwei Wörter reduziert auch noch die ganze kommunistische Periode hindurch, wahrscheinlich nur im ihre vollkommene Harmlosigkeit zu dokumentieren. Jene zwei Worte (im Deutschen sind es drei mit dem Artikel) lauten: „(Die) Wahrheit siegt.“ Diese Reduktion zeugt davon, daß jener Gedanke nicht einmal im Lande, wo er einst so wichtig und gar herrschend geworden ist, bis in die wahre Tiefe verstanden wird. So konnte sich ihr eigentlicher Inhalt fast vollkommen unauffallend machen und konnte meist nur unbewußt oder höchstens halbbewußt hinter gewissen übrig gebliebenen Formeln irgendwie versteckt weiterleben – wie es sonst sehr ähnlich im ganzen christlich beeinflußten Europa der Fall war.

    Ich lasse jetzt alle weiteren historischen Aspekte beiseite, beziehungsweise die sonst ganz interessante Art einiger Denkversuche der tschechischen Philosophen in unserem Jahrhundert, diese alte Idee wieder zu einer lebendigen und aktuell gültigen Gestalt zu bringen. (Drei sind Masaryk-Schüler: Hromádka, Kozák und als der wichtigste überhaupt Rádl; der vierte ist Patočka, jedoch im sehr speziellen Sinne.) Nur das möchte ich hinzufügen, daß es sich eigentlich um eine Zitation aus dem apokryphischen sog. III. Esdras handelt, und daß man gerade diese Stelle relativ häufig zitiert finden kann – schon bei den alten griechischen und dann lateinischen Kirchenvätern (freilich ausführlicher und nicht auf bloße zwei Wörter herabgesetzt). Auch in Böhmen kann man mindestens schon am Ende des 14. Jahrhunderts solche Zitationen in einigen Postillen nachweisen, also noch vor Jan Hus, bei dem sie sich dann nicht nur vielmals und in mehreren Variationen vorfinden, sondern von ihm mit einer außerordentlich tiefen und zugleich dynamischen inneren Kraft versehen werden.

    Ganz kurz und vereinfacht kann der hebräische Gedanke als Polemik mit dem griechischen (im ersten Jahrhundert vor Christi Geburt also mit dem hellenistisch-griechischen) folgenderweise gefaßt werden: nicht die Wahrheit richtet sich nach den Dingen, sondern die Dinge richten sich oder sollen sich nach der Wahrheit richten. Die Wahrheit siegt jedoch langfristig (= in die Ewigkeit), uns sie siegt, weil sie mächtiger ist als alles Seiende, und zwar nicht deswegen, weil sie das mächtigste Seiende sein sollte, sondern weil sie überhaupt nicht seiend ist. Sie siegt, weil alles, auch das mächtigste Seiende früher oder später untergehen und zunichte werden muß, wogegen die noch-nicht-seiende und deswegen nicht‑gegenständliche Wahrheit immer neu ankommt. Also gerade diesen verdächtigen und Mißtrauen erweckenden Gedanken werden wir jetzt ein bißchen durchforschen wollen.

    2.

    Das alles mußte ich gleich am Anfang klar machen, weil es gerade hier in Deutschland Autoren gibt, die die ganze Problematik der Nicht-Gegenständlichkeit sowie der Kritik der Gegenständlichkeit auf romantische Wurzeln zurückführen wollen. Mein unterstrichener Abstand davon ist besonders im Kontext mit dem Begriff der Reflexion wichtig, wie wir noch sehen werden, welcher in der romantischen Philosophie, aber auch Dichtung und sogar Ideologie eine hervorragende Rolle gespielt hat und zu gewissem Maße bis heute als ein überlebendes Relikt immer noch spielt. Um ganz klar zu machen, worum es sich handeln wird, beziehungsweise deswegen, weil fast alle bisherige Kritik des vergegenständlichenden Denkens im Allgemeinen wenig präzis oder manchmal ganz konfus formuliert wurde und fast ohne irgendeinen Versuch geblieben ist, um – sei es nur in einigen Anfangsschritten – eine strategisch und systematisch durchdachte Lösung zu suchen, will ich auch gleich am Anfang ein Prinzip formulieren, wie nach meiner Meinung ein solches systematisches Unternehmen entwickelt werden sollte. Das vergegenständlichende Denken ist bis zu dieser Stunde das präziseste und exakteste, was wir überhaupt haben. Wenn wir unseren Abstand und Kritik nicht nur abstrakt und allgemein (und meistens auch konfus) deklarieren wollen und nur darum herum plaudern wollen, müssen wir uns bei der Analyse und bei der vorsichtig begründeten Kritik der Vergegenständlichungen notwendigerweise gerade dessen Denken benutzen, das wir kritisieren wollen. Also keine Abwendung von der Begrifflichkeit und von den Begriffen (oder von dem Identifizieren, das mit den Begriffen eng verbunden ist und für immer bleiben wird und muß), sondern eine so hoch wie möglich entwickelte und mit allen kritischen Mitteln bei jedem Schritt kontrollierbare und auch effektiv kontrollierte Benutzung einer bis zu extremsten Formen gesteigerten Begrifflichkeit, und das auch um nicht nur oberflächlich und generell, sondern an klaren Momenten und Details die Unhaltbarkeit der bisherigen Form der Begrifflichkeit demonstrieren zu können.

    Als Motto von Quines Buch Word and Object fand ich vor gewisser Zeit ein Zitat aus Otto Neurath, jedoch zu meinem Bedauern ohne genauere Angaben der Quelle. Dieses Zitat scheint mir unsere Situation sehr genau, obzwar nur metaphorisch, zu beschreiben. Ich zitiere: „Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.“2

    3.

    Und jetzt also zur „Sache selbst“. Fall es sich um eine Art der Begrifflichkeit handeln soll, müssen wir vorerst das Nötige zur Frage und Problematik des Begriffes selbst zum Verstehen bringen, natürlich nicht insoweit, daß wir schon jetzt am Anfang einen klaren Begriff des Begriffes konstituieren sollten. Wie es sich zeigen wird, ist es auch nicht bedingungslos notwendig, weil das Hauptproblem nicht bei den Begriffen und derer Begrifflich-Sein liegt, sondern bei den Gegenständen (richtiger: bei den intentionalen Gegenständen oder Objekten, wenn wir an Brentano bzw. Husserl terminologisch anknüpfen wollen, natürlich ohne uns mit ihnen bis in alle ihre Folgen zu identifizieren). Also werden wir mit dem Problem des Verhältnisses zwischen dem Begriff auf einer Seite zu tun haben, und dessen Gegenstand auf der anderen. Weil sich die Philosophie in engster Verbundenheit mit der Geometrie konstituierte, hat es einen guten Sinn, es auch wieder an den Beispielen aus der Geometrie zu zeigen (natürlich bleiben wir bei der Euklidischen). Die abendländische Begrifflichkeit hat sich doch an der Geometrie entfaltet und erst dann hat sie ihre Anwendung an das Physische, d. h. an die Natur, und d. h. wieder an das, was geboren worden ist, wächst und endlich stirbt, gefunden (daran denken wir sehr wenig, und schon Aristoteles verstand φύσις nicht mehr wie die Alten). Also kommen wir zusammen für eine Weile zur Geometrie und zu ihren „idealen Bildern“ oder besser „Gestalten“. Zugleich hat es sich jedoch gezeigt, daß wir den Unterschied zwischen den intentionalen und den sog. „realen“ Gegenständen bis auf weiteres im Auge behalten müssen.

    4.

    Welches ist der Unterschied zwischen einem Dreieck und einem Quadrat? Das kennen wir wohl alle schon als Kinder aus der Schule: ein Dreieck hat drei Seiten, drei Winkel und – wie der Name sagt – drei Ecken. Das Quadrat dagegen hat alles viermal. So weit ist es ganz klar. Und wie ist es mit den Begriffen des Dreiecks und des Quadrats? Begriffe haben doch keine Winkel, keine Seiten und keine Ecken. Wenn wir doch den Unterschied zwischen ihnen bestimmen wollen, müssen wir wieder zurück zu den intentionalen Gegenständen. Das scheint der Grund für die sog. moderne Logik gewesen zu sein, über Begriffe gar nicht zu sprechen (das ist auch einer der Gründe, warum die moderne Logik nicht mehr eine philosophische Disziplin ist, sondern eine besondere Fachwissenschaft). Ist es jedoch wirklich so, daß wir sonst überhaupt nichts über die Unterschiede zwischen jenen beiden Begriffen angeben können? In keinem Fall: wir können z. B. begründen, daß der Begriff des Dreiecks allgemeiner ist als der Begriff des Quadrats, was jedoch wieder gar nicht über das Verhältnis beider geometrischer Gestalten gültig gesagt werden darf, weil alle geometrische Gestalten Einzelgestalten sind und in diesem Sinne einmalig (besser als „konkret“, weil „concretum“ von „concresco“ abgeleitet worden ist, und das heißt, daß das Konkrete eigentlich das Zusammengewachsene ist. Dreiecke, so wie Vierecke und andere geometrische Gestalten werden jedoch nicht geboren und deswegen wachsen sie auch nicht).

    5.

    Damit wollen wir uns begnügen, was die Begriffe selbst betrifft. Bis auf weiteres befriedigen wir uns mit dem Klarmachen der Funktion der Begriffe. In unserem Bewußtsein haben wir nichts anderes als gerade nur Begriffe, die uns ermöglichen, unter verschiedensten sowohl äußeren als auch inneren Bedingungen immer dasselbe zu meinen. (Bei niederen Lebewesen gibt es noch angeborene Instinkte oder auf dem Grunde erster Erfahrungen sich bildende Imprintationen, die eine ähnliche Funktion zu haben scheinen, aber das werden wir wieder beiseite lassen.) Diese Fähigkeit, dasselbe wieder zu meinen, war für Husserl gerade Anlaß zur Kritik und zur Distanz von seinem Lehrer Brentano, der als erster – freilich in einer terminologischen Anknüpfung an die Scholastik – über „intentionale Gegenstände“ nachzudenken begann. Seine (Brentanos) Frage war, wie ein Akt unseres Bewußtseins überhaupt imstande sein kann, sich auf einen ganz genau identifizierten und in seiner Identität unaustauschbaren Gegenstand (oder Objekt) zu beziehen, also durch seinen intentionalen Akt zu ihm tatsächlich zu gelangen und ein eindeutiges Verhältnis zu ihm zu gründen. Brentanos Lösung war gerade das intentionale Objekt, das für ihn notwendigerweise ein Bestandteil des intentionalen Aktes sein mußte. Und da bewies Husserl (in seinen Logischen Untersuchungen), daß kein Bestandteil unserer Denkakte so eine präzise Relation weder ermöglichen, noch gründen und sicherstellen könnte, so daß wir eine unausweichbare Korrektur machen müssen in dem Sinne, daß der intentionale Gegenstand in keinem Falle dem intentionalen Akt inhärent oder immanent sei, sondern daß er – einmal gültig konstituiert – als ein für allemal Festes, von den Zufälligkeiten der Denksubjektivität Unabhängiges vor uns steht. (Strategisch hatte damals dieses Argument eine außerordentliche Bedeutung im Kampf gegen den Psychologismus in der Logik.) Und gerade da können wir mit der – in diesem Moment etwas vereinfachten – Untersuchung der Haupteigenschaften dessen anknüpfen, was in dieser Weise vor uns steht, oder anders gesagt, was uns als Gegenstand entgegen‑steht. Denn das uns Entgegen‑Stehende ist doch gerade ein Gegen‑stand. Wenn wir über das Nicht‑Gegenständliche nachdenken wollen, müssen wir uns erst im Klaren sein, was ein Gegenstand ist und woher seine Gegenständlichkeit kommt.

    6.

    Ich werde nicht viel Zeit mit der ganzen sehr interessanten und komplizierten Geschichte und Vorgeschichte des Wortes „Gegenstand“ verlieren. Nur das möchte ich zu Ihrer Erinnerung bringen, daß es im alten Deutschen tatsächlich zwei Termini gegeben hat, nämlich Gegenstand und Gegenwurf. Das hängt wieder damit zusammen, daß nämlich zwei verschiedene etymologische Wurzeln des lateinischen Wortes „obiectum“ möglich waren. Das Verbum „obicio“ konnte als „ob‑iacio“ oder auch als „ob-iaceo“ verstanden werden, also als „gegenüber‑werfen“ oder „gegenüber‑liegen“. Im Deutschen wurde das Gegenüber‑liegende zum Gegenüber‑stehenden und so zum Gegenstand, wogegen das Gegenüber‑geworfene als Gegenwurf in der Sprache nicht mehr lebendig ist. (Im Tschechischen war es anders, sogar umgekehrt: gerade das Gegenüber‑geworfene hat überlebt, „před‑mět“, abgeleitet von „metati před“.) Das lateinische Wort „obiectum“ wurde jedoch erst ziemlich spät im Mittelalter gebildet und gebraucht, und zwar als Nachahmung des Wortes „subiectum“, was ursprünglich unseren heutigen „Gegenstand“ meinen wollte. Deswegen finden wir in romanischen Sprachen, aber auch im Englischen, daß dieses in jenen Sprachen domestizierte Wort immer noch Gegenstand meint. Das neue Verständnis von Subjekt als Urheber und Zentrum der Aktivitäten wurde in der deutschen Philosophie geprägt und hat sich bis heute soweit durchgesetzt, daß es nicht nur bei Übersetzungen, sondern immer auch dort, wo das Thema des Subjekts behandelt werden soll, zu beträchtlichen Schwierigkeiten immer kommt. Deswegen scheint es mir gewissermaßen verdächtig, wenn in gewissen philosophischen Strömungen die ganze Problematik des Subjekts und besonders das Subjekt selbst abgeschafft oder wegeskamotiert werden soll. Wir dagegen werden zu diesem Thema zurückkommen, wenn wir an einigen Beispielen zeigen wollen, was eigentlich eine nichtgegenständliche Wirklichkeit ist. Das Subjekt ist doch ohne weiteres eine Wirklichkeit, weil es „wirkt“, weil es wirkend aktiv ist. Als Subjekt ist es aber jedem Objekt, jedem Gegenstand entgegen- und voraus‑gesetzt, denn nur einem Subjekt kann ein beliebiges Objekt entgegen‑gestellt oder -geworfen werden. In diesem Sinne ist ein Subjekt ex definitione ein Non‑Objekt, ein Nicht‑Gegenstand. Ein vergegenständlichtes Subjekt hört auf, ein wirkliches, wahres Subjekt zu sein. Soweit schon jetzt, etwas Weiteres werden wir später erfahren.

    7.

    In der raum‑zeitlichen Welt gibt es keine intentionalen Gegenstände: das sind lauter bloße Denkkonstruktionen. Alle bisherige Kritik, soweit ich weiß, des vergegenständlichenden Denkens hat sich damit begnügt, der begrifflichen Form des Denkens gegenüber das Nicht‑begriffliche oder Begriffslose als das Andere des Denkens überhaupt (Adorno) zu behaupten, oder wieder im Rahmen des Denkens das außerbegriffliche oder vorbegriffliche Denken gegen das gegenständliche oder vergegenständlichende zu stellen (Heidegger u. a.), neben dem Gegenständlichen das Nicht‑gegenständliche oder auch Ungegenständliche zu unterstreichen (z. B. Theunissen), und auch darüber Vorbehalte gehabt, ob es überhaupt möglich ist, mit den Begriffen das Absolute oder das Lebenswichtigste sich zu eigen machen oder es nur in Chiffern anzudeuten (Jaspers). Im Personalismus hat man Person gegen Sache oder Ding gestellt (so Stern schon 1906!), Ich-Du gegen Ich-es (Buber) usw. Mir selbst scheinen alle dieser Formulierungen viel mehr auf Vorurteilen gegründet zu sein als auf sorgfältigen Analysen und auf einem präzisen Argumentieren. Das begriffliche Denken bedient sich, wie gesagt, der intentionalen Gegenstände, und zwar als konstruierter Denkmodelle. Auf Grund tausendjähriger Erfahrungen mit dem begrifflichen Denken und mit dem Konstruieren der Gedankenmodelle muß man freilich immer damit rechnen, daß unsere gegenständlichen Modelle nicht immer ganz genau in die Wirklichkeit passen. Das spricht doch überhaupt nicht gegen das Konstruieren, sondern für es. Wir sind doch die Schöpfer dieser Konstruktionen, und so wissen wir mehr von ihnen als z. B. von den Naturdingen oder gar von den Lebewesen. Wir wissen aus den relativ ganz neulichen Wendungen der astrophysikalischen Kosmologie, wie nützlich solche Modelle sein können und wie weit sie uns gerade durch Simulierung des kosmischen Geschehens ermöglichen, durch verändert vorausgedachte Modelle der Anfangsbedingungen zu besseren Angleichungen an den heutigen Zustand des Alls zu kommen. Das alles ist außerordentlich fähig, uns zu neuen Erkenntnissen zu führen und also ohne weiteres erstrebenswert. Darin liegt nicht das Problem. Wenn das vergegenständlichende Denken nicht nur in sich kohärent bleiben kann, sondern auch noch in solchen Applikationen, dann muß etwas daran sein. Dann müssen wir mindestens die Folgerung daraus ziehen, daß die Wirklichkeit zum Teil wirklich gegenständlich sein muß, oder anders gesagt, daß sie eine gegenständliche Seite, gegenständliche Aspekte haben muß. Um das näher einzusehen, werden wir von einem außerphilosophischen Denker und Schriftsteller etwas lernen und dann auf Grund einer philosophischen Interpretation von ein paar seiner Verse auf unserem Weg einige Schritte weiter machen.

    8.

    Es handelt sich um den berühmten altgriechischen Dramatiker Sophokles, der am Anfang des 5. Jahrhunderts geboren ist und ungefähr um 70 Jahre älter war als Plato. Er war wahrscheinlich noch Jüngling oder höchstens junger Mann in der Zeit, wo es zu einem riesigen, fast heroischen Verbrechen in der ganzen Geschichte des europäischen Geistes gekommen ist. Das, was Nietzsche in seiner Fröhlichen Wissenschaft als Gottesmord den Wahnsinnigen laut erklären ließ, war und ist eigentlich als die letzte Folge eines viel älteren Mordes zu verstehen, nämlich eines Mordes des wirklichen, des lebendigen Seins, des Lebens und gar der letzten Wurzel alles Lebens. Der Täter ist seit je gut bekannt. Auch der Leichnam fehlt nicht. Nur haben wir uns Jahrhunderte hindurch an den Geruch des Faulens insoweit gewöhnt, daß wir es erst in der letzten Zeit wegen verschieden drohender ökologischer Katastrophen wahrzunehmen anfangen. Damit jenes philosophische Verbrechen für unser Verständnis so offen, klar und roh wie möglich stünde, kehren wir zurück zu einem Gedanken, den Sophokles in den Mund eines weiteren Lebens unfähigen, unglücklich alles, auch seine Familie hinter sich lassenden und zu einem Selbstmorde sich vorbereitenden Mannes legt. Den Gedanken wollen wir rein ergreifen, ohne alle diese situationsmäßigen Aspekte und Hinzufügungen, weil er vollkommen selbstragend ist.

    9.

    Aias 646:

    Alles und jedes treibt die lange, unzählbare Zeit

    Hervor aus dem Verborgenen, und das

    Ins Licht Getretene verbirgt sie wieder.

    Aias 713:

    Chor: Alles löscht aus die große Zeit.

    (Übers. W. Schadewaldt, Tragödien, 1968, S. 33, 35)

    Alles läßt die lange und unabzählbare Zeit

    Wachsen, das Verborgene, und das Erschienene verbirgt sie.

    (G. Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte, 1989, S. 54)

    Es ist sicher auf für Sie auffallend, was für einen Sinn es haben kann, das Verborgene ans Licht zu „treiben“ oder – im zweiten Fall – es aus der Verborgenheit „wachsen“ zu lassen. Erstens ist es doch ein großer Unterschied zwischen dem „Treiben“ und dem „Wachsen-lassen“, denn im ersten Fall ist alles gezwungen ans Licht gebracht, ja getrieben, im zweiten dagegen läßt man es selbst wachsen. Aber zweitens ist hier noch eine Unklarheit: was bedeutet es eigentlich, daß alles, was ursprünglich verborgen ist, auf eine gewisse Zeit sich im Lichte zeigt, um dann wieder gelöscht und verborgen zu werden? Worüber ist hier eigentlich die Rede? Da müssen wir zum Original weiter gehen, d. h. zum griechischen Text. Hier finden wir: μακρὸς κἀναρίθμητος χρόνος φύει τἄδηλα καὶ φανέντα κρύπτεται. Also: χρόνος φύει – die Zeit treibt nicht alles, sie läßt alles auch nicht nur wachsen, die Zeit ist nicht die Zwingende, aber auch nicht die nur wachsen Lassende, sondern sie ist die alles Gebärende, dann aber auch die alles Löschende, wir könnten vielleicht auch sagen: alles zum Nicht-mehr-im-Licht-bleiben-lassende. Stellen wir nun die folgende Frage: ist das „aus dem Verborgenen ins Licht bringen“ dasselbe wie aus dem Nicht‑Sein zum Sein bringen? Wenn ja, dann ist die Zeit der Schöpfer von allem Seienden. Und auf der anderen Seite können wir noch eine andere, analoge Frage stellen: ist das Verbergen des ans Licht Gekommenen, des schon einmal Erschienenen, wirklich das Auslöschen des Seins jedes Seienden? Ist es das Zunichte‑machen, das Vernichten? Ich halte es für höchst unwahrscheinlich, ja – wenn wie die ganze Mentalität der Griechen und alle ihre Weltvorstellungen in Betracht nehmen, ist es so gut wie ausgeschlossen. Es handelt sich um etwas ganz anderes als um den Anfang und um das Ende des Seins; es handelt sich vielmehr um den Weg des Seins und um die Art des Seins jedes Seienden. Auch das noch Verborgene „ist“ in gewissem Sinne seiend, auch das schon wieder Verborgene „ist“ in gewissem Sinne immer noch seiend. Der Sinn, den Sophokles gemeint haben durfte, ist der folgende: Jedes Seiende braucht Zeit, um in allen seinen Seiendheiten, Seiendheits‑formen oder -phasen ans Licht zu kommen und in diesem Lichte sich zeigen zu können. Kein Seiendes kann als Ganzes ans Licht und vor unsere Augen in einem bloßen Moment treten, kein Seiendes kann sich ganz und vollkommen auf einmal zeigen. Der Hund, der auf der Straße gerade vorbeigeht, die Katze, die sich ins Zimmer eingeschlichen hat, der Vogel, der dort am Ast sitzt und singt – das alles sind nur Teilwesen, das alles sind nur ihre heutigen, ja, was sage ich, ihre momentanen, phänomenalen Daseinsformen, jedoch lange nicht die wirklichen Lebewesen im Ganzen und als Ganze. Es ist eben „die lange, unabzählbare Zeit“, die ihre sich-noch-nicht-zeigende Seiendheiten zum Zeigen bringt, und die gleich wieder die sich gezeigten Seiendheiten wieder verbirgt oder zum Verbergen bringt. Wir wissen nicht, woher alle diese Wesen kommen, auch wissen wir nicht, wohin sie gehen. Das ist uns ganz verborgen. Aber aus dieser Verborgenheit kommt doch etwas ans Licht: die augenblicklich aktuellen Seiendheiten, eine ganze Serie der Seiendheiten, die gar nicht willkürlich nacheinander ans Licht kommen, sondern so, daß wir durch aufmerksame und ausdauernde Betrachtung zum Verstehen kommen, worin ihr Sein besteht. Das gilt um so mehr für uns Menschen. Wir sind niemals nur die, die wir gerade im Augenblick sind, sondern wir haben immer auch unsere eigene, auch durch unsere schon vergangenen Taten zu eigen gemachte Vergangenheit mit, aber auch und vor allem unsere eigene Zukunft. Mehr als von anderen Lebewesen gilt von uns Menschen, daß wir vielmehr das sind, was wir sein werden, als das, was wir gerade schon sind. Obwohl sowohl unsere Vergangenheit, als auch unsere Zukunft nicht vor unseren Augen oder vor den Augen anderer Leute direkt zum Vorschein kommt, sie sind nicht Nichts. Nicht nur wir selbst, sondern auch die Anderen müssen mit ihnen rechnen. Nur so können wir verstehen, daß wir nicht mit unseren Rechten als den eingeborenen zur Welt kommen, und daß unsere Grundrechte nicht mit uns als unsere Eigenschaften oder Ausrüstungen geboren werden. Die Rechte gehen uns nämlich voraus, wir werden schon in unsere Rechte geboren, so wie wir in die Wahrheit geboren werden, wie es einer der hervorragendsten tschechischen Philosophen formuliert hat.

    10.

    Aber jetzt schon zurück zu unserem die ganze folgende europäische Geschichte beeinträchtigenden, weltweit sich immer mehr durchsetzenden philosophischen „Mord“. Worin besteht dieser Mord? Wer wurde hier totgeschlagen? Was so Furchtbares hat sich eigentlich ereignet? Aristoteles nennt die ersten Philosophen Hylozoisten. Das ist einerseits ein grober Fehler, weil ἀρχή für sie überhaupt keine ὕλη war; aber es stimmt wieder darin, daß für sie ἀρχή wirklich lebendig, urlebendig war. Noch für Herakleitos war das Feuer lebendig. Es war Parmenides, der als erster seine ἀρχή, die nämlich ἕν καὶ πᾶν war, Eines uns Alles, nicht nur des Lebens, sondern auch jeder Zeitlichkeit beraubt hatte. Er war es, der die alte Auffassung des Seienden als des aus dem unbegrenzten Ursprung entstehenden und dann in ihn wieder untergehenden, vollkommen abgelehnt hatte, die ἀρχή zum ewigen „Jetzt“ (zum aeternum nunc) verurteilte, das Seiende mit dem Ursprung, mit der so getöteten ἀρχή identifizierte und jedwede Vergangenheit, als auch Zukunft verneinte: „nie war es oder wird es sein, da es jetzt zugleich ein einheitliches, zusammenhängendes Ganzes ist. Was wolltest du denn auch für einen Ursprung für das Seiende erfinden? Wie und woher sollte es gewachsen sein?“ usw. Fast alles weiteres Denken wurde mit dieser suggestiven, aber durchaus irrtümlichen Idee infiziert. Freilich war es nicht möglich, sie vollkommen zur Geltung kommen lassen; man wollte verschiedenste Kompromisse ausdenken. Mat hat vorausgesetzt, daß zwar Veränderungen möglich sind, jedoch nur auf der Oberfläche. Unten, noch unter dem Keller, muß letzten Endes etwas fest liegen oder stehen bleiben: das ὑποκείμενον als Substanz (also nicht grammatisch als Subjekt). – Weiter wollen wir hier nicht verweilen. Unsere Frage ist jetzt, ob es möglich wäre, das alles anders zu denken und dabei nicht zurück zur Narrativität zu gehen, sondern es wieder begrifflich zu schaffen. Und wie wir gesehen haben, das eigentliche Problem ist nicht in der Begrifflichkeit selbst, sondern bei den intentionalen Gegenständen. So ein „Gegenstand“ mußte doch unbeweglich und unveränderlich sein, wenn man ihn im traditionellen, d. h. metaphysischen Sinne recht „begrifflich“ denken sollte. Was sich bewegt, darüber gibt es keine Wissenschaft, sagt Aristoteles. Wir jedoch müssen jetzt versuchen, ob es möglich wäre, etwas begrifflich ganz präzis und exakt zu denken, ohne mit dem Begriff einen unbeweglichen intentionalen Gegen‑stand zu verknüpfen, sondern vielmehr einen Nicht‑Gegenstand, oder positiv ein sich uns entgegen ereignendes Geschehen. Das ganze Problem hängt davon ab, ob wir statt einer außerzeitlichen Struktur eine zeitliche in unser Modell hineinkonstruieren imstande sein werden, und nicht nur zeitliche in dem Sinne, daß wir Zeit einfach zur vierten Dimension umtauschen werden, sondern ob es uns gelingt, ein ereignisförmiges, ereignishaft sich entfaltendes Geschehen zu modellieren. Es muß am Anfang wieder eine gewisse neue Vergegenständlichung ermahnen, aber nur denen, die schon im voraus ganz sicher sind, daß jede Begrifflichkeit mit Vergegenständlichungen unabdingbar verknüpft ist und nie davon befreit werden kann. In dieser Forschungsrichtung werden wir jedoch hier und jetzt nicht gehen können. Wir haben nichtsdestoweniger schon Voraussetzungen genug vorbereitet, um auf die Frage des Ortes der Wahrheit mindestens vorübergehend zu antworten, ohne es zu einer vollkommenen Auffassung ausarbeiten zu müssen.

    11.

    Um den alten Fehler wegzuschaffen, wollen wir also ein intentionales Modell entwerfen und konstruieren, welches kein Gegen‑stand wäre, sondern ein uns entgegen geworfenes einfaches oder vereinfachtes Ereignis, oder besser: Modell eines Ereignisses. Wir wollen uns gar nicht damit begnügen, daß wir die sich modellartig ereignende Bewegung zur Formel machen und so der „wirklichen“, d. h. „modelliert wirklichen“ Zeitlichkeit berauben. Wir wollen ganz entschieden gerade das Geschehen des simplen Ereignisses an unserem Modell sorgfältig verfolgen und ersehen, was wir damit kriegen. Wir werden anschauliche Schemata gebrauchen, um direkt an ihnen verstehen zu können, worin sie unpassend sind und wie sie uns zu verführen drohen.

    A ls erstes werden wir ein Schema eines Ereignisses aufzeichnen, wo die Koordinate x die Zeitachse, die Koordinate y räumliche Ausdehnung und zugleich Komplexität, also den „Körper“ des Ereignisses vorstellen soll. Es gibt u. a. zwei Möglichkeiten der Veranschaulichung:

    Die erste Frage, die wir stellen müssen, ist die nach der Richtung des Geschehens „in“ der Zeit (was das eigentlich besagt, dieses „in“, lassen wir jetzt wieder beiseite und werden uns nur um die Zeitlichkeit des Geschehens, des Ereignisses kümmern). Wir wissen doch, daß jedes Ereignis einen Anfang und ein Ende hat. Wo ist der Anfang und wo das Ende auf der Zeitkoordinate? Wir sind geübt, den Anfang immer in die Vergangenheit zu stellen oder ihn dort zu sehen, aber das machen wir als Beobachter. Wie ist es mit dem Ereignis selbst? Vor seinem Anfang ist es „noch nicht“. Aber was „noch nicht ist“, gehört doch in die Zukunft! Erst wenn das Ereignis sich ganz entfaltet hat, d. h. nach seinem Ende, wird es zur Vergangenheit. Daraus ist jetzt klar geworden, daß die Richtung des sich ereignenden Geschehens gerade umgekehrt ist, als wir es gewöhnlich wahrnehmen. Man kann sich fragen, warum wir es so verkehrt sehen und verstehen. Die Antwort ist einfach: weil wir uns bewegen, aber immer dabei (d. h. bei uns selbst) bleiben, scheint es uns, daß wir stehen und daß das uns Umgebende sich in umgekehrter Richtung bewegt. Auch hier müssen wir erst noch eine „Kopernikanische Wendung“ durchführen.

    12.

    Unser Interesse führt uns jedoch zu weiteren Fragen. In jedem Augenblick zeigt das Ereignis nur eines von seinen Antlitzen, nach Hegel gesagt: seinen Veräußerungen. Wir werden diese momentanen Veräußerungen als Seiendheiten bezeichnen. Natürlich können wir jetzt nicht die Frage erörtern, inwieweit eine solche Seiendheit zeitlich ausgedehnt ist; uns genügt vollkommen, daß wir wissen, daß auch das Teilen der Zeit ihre Grenzen hat. Auch viele theoretische Physiker sprechen in der letzten Zeit über die letztkleinen Zeitquanten, unter die man in keinem Fall gehen kann. So weit werden wir freilich nicht gehen müssen. Entscheidend ist jetzt für uns, daß sich während des Geschehens des Ereignisses immer nur eine einzige Seiendheit zeigt und nicht alle, also nicht das ganze Ereignis. Um er ernst genug zu nehmen, wollen wir zwei Applikationen wählen. Ein Hund, der herumläuft, ist nur ein Teilaspekt, ein Bruchteil des wirklichen Hundes, der schon acht Jahre gelebt hat und noch ein paar Jahre leben wird. Wir sehen jedoch nur den heutigen, ja nur den jetzigen Hund. Warum halten wir ihn eigentlich für „den Hund“ schlechtweg? Weil wir immer seine in diesem und auch jedem anderen Moment verborgene Vergangenheit, sowie seine noch zu kommende Zukunft zu seiner Gegenwart hinzudenken und so immer – vieles über diesen Hund wissend oder nichts wissend – diese verborgene absolute Mehrheit seiner Seiendheiten in unserem Bewußtsein irgendwie mit‑entwerfen und uns so oder anders mit‑vorstellen. Und das heißt – in der bisherigen Überlieferung – vergegenständlichen. Ein zweites Beispiel gehört schon zum Menschenleben. Wenn wir unseren Lebenspartner wählen, wenn wir ihn heiraten, dann nehmen wir auch seine Vergangenheit und seine Zukunft mit. Daß die Zukunft verborgen ist, das ist klar, aber es ist nicht anders mit der Vergangenheit. Die ist schon vorbei; was daraus geblieben ist, ist nur das Gedächtnis, das unsere und das der Anderen. Aus unserer ganzen Vergangenheit verbleiben nur Reste, nur Produkte und Nebenprodukte unserer damaligen Aktivitäten, die jedoch uns wirklich gegenwärtig, also präsent sind. Es ist nicht weniger notwendig, unsere Vergangenheit aktiv zu vergegenwärtigen, wie es sich so verhält mit unserer Zukunft. Auch das gehört dazu, daß unsere Gegenwart nicht punktuell ist und sein kann, weil sie nicht nur präsent ist, sondern immer auch re‑präsentierend, d. h. unsere Vergangenheit und unsere Zukunft in sich hineinziehend und so sie – im Rahmen der bisherigen Denkweise – vergegenständlichend.

    13.

    Aus dieser individuell menschlichen Situation werden wir einen Sprung machen in die zwischenmenschliche und in die sog. „objektive“ menschliche Situation. Wenn wir über den Hund gesprochen haben oder jetzt über den Menschen, handelte sich um so zu sagen „echte Ereignisse“ oder „echte Seiende“, d. h. um echte Ganzheiten. Dinge, bloße Objekte sind keine Ganzheiten, sondern bloße Haufen, bloße Aggregationen, und zwar von Dingen, die auch wieder Haufen sind, oder von kleineren „echten Seienden“, letzten Endes von den allerkleinsten „primordialen Ereignissen“. Die Situationen sind jedoch keine bloßen Haufen von Dingen, weil sie von jemandem oder für jemanden im gewissen Sinne strukturiert sind. Es gibt keine Situation ohne ein Subjekt dieser Situation, in der das Subjekt situiert wird und auch sich aktiv situiert. Solche Situationen sind nicht echte Ganzheiten, weil sie zu ihrer Gestalt immer von einem Subjekt (oder meistens von mehreren Subjekten) durch ihre Wahrnehmung und besonders durch ihre Tätigkeit mit‑organisiert, und d. h. als‑ob‑integriert werden. Sie stellen nie eine bloß augenblickliche Lage der Dinge vor, sondern zeigen sich als bewegend, als dynamisch, sie „entfalten“ sich selbst auch ohne unsere Zutaten, ja sogar auch ohne daß es von uns bemerkt wird. Sie kommen an und dann vergehen sie wieder. In jeder Situation, weil sie nie vollkommen dinglich, vollkommen objektiv ist, „vereinigt“ sich in ihrer augenblicklichen Lage auch etwas aus der Vergangenheit und der Zukunft ihres Subjekts oder ihrer Subjekte, oder besser gesagt, in ihr ist durch ihre Subjekte etwas aus ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft „präsent“. Uns interessiert jetzt vor allem die Zukunft, weil auch der Zutritt zur Vergangenheit immer nur durch die kommende Zukunft offen bleibt. Ohne Zukunft gibt es keine Vergangenheit, und ohne Zukunft kann die Vergangenheit auch nicht rekonstruiert werden, denn für so eine Rekonstruktion des Vergangenen braucht man Zeit, und d. h. die kommende Zeit, nicht die schon weg in das Vergangene verschwundene.

    14.

    Die Zukunft kommt also uns gegenüber an. Die ankommende Zukunft ist jedoch nicht leer, wie wir es uns oft vorstellen, sondern voll von erst aus dem „Verborgenen“, wie Sophokles es sagt, aus dem noch Unklaren und Ungewissen sich formenden Herausforderungen und Aufgaben. Am Morgen stehen wir auf und wollen zur Arbeit oder woandershin gehen, aber wir müssen unser Vorhaben radikal verändern, weil wir sehr bald feststellen, daß von der Wohnung unseres über uns wohnenden Nachbarn Wasser in großen Tropfen regelmäßig und recht auf unsere Möbel fällt. Oder wir wollen rasch für ein paar Stunden weggehen, aber da steht vor uns unser Hund oder unsere Katze und sie wollen etwas zum Essen bekommen. Oder wir wissen, daß unten im ersten Stock eine alte Frau nach einem Unfall im Bett liegt, und wir wissen nicht, ob sie alles hat, was sie braucht. Das alles stellt uns vor Aufgaben und Herausforderungen, ob wir wollen oder nicht. Diese Herausforderungen sind keineswegs bloß Folgen des gegebenen Zustandes; das ist nur eine vergegenständlichende Weise, die wir in der Sprache benutzen. Jedermann (oder fast jedermann) weiß, worum es sich handelt. Gestatten Sie noch ein Beispiel, das ich schon mehrmals benutzt habe bei solcher Gelegenheit. Der Mann ist bereit auszugehen und noch in der Tür bleibt er stehen und fragt seine Frau: Wieviel Grad hat es? Er rechnet damit, daß seine Frau schon wissen wird, daß er sich nicht für die innere Temperatur in der Wohnung interessiert. Schon das ist ein gutes Beispiel dessen, daß wir seht gut auch das nicht gesagte verstehen. Aber die erfahrene Gemahlin versteht noch mehr. Sie antwortet: „Nimm nur den Mantel mit.“ Ganz formell beurteilt scheint es als ein Gespräch von zwei Narren: einer spricht von den Graden Celsius am Thermometer, der andere oder die andere spricht über den Mantel. Aber man versteht sich vollkommen. Beide wissen, worum es sich handelt. Und durch das Gespräch über das Gegebene wurde das Nicht‑Gegebene, nämlich der Zukünftige Teil des Tages in die Gegenwart hergebracht und also als ihnen bevorstehende Zukunft vergegenwärtigt. Keiner vor ihnen weiß noch, ob es kalt wird oder nicht, ob es regnen wird oder ob die Sonne scheinen wird, aber beide entscheiden sich der ankommenden, nächsten Zukunft entgegen: er noch halb unentschieden und zögernd, sie um sicher zu sein mit der schlimmeren Eventualität rechnend. Die Art, wie sie zusammen sprechen, zeigt, daß dabei immer weitere Kontexte im Spiel sind, die eine wichtige Rolle spielen für das Verständnis von beiden Seiten und auch für unser Verständnis als Beobachter der Situation. Und zu diesen Kontexten gehört auch die Zukunft, und das heißt nicht nur die allgemeine, sondern auch ihre eigene Zukunft, mit der sie rechnen müssen. Und jene allgemeine sowie ihre „eigene“ Zukunft kommt, wie gesagt, nicht leer, sondern schon irgendwie vorstrukturiert und ihrer konkreten Situation sich anpassend, jedoch nicht als gegeben (weil sie doch „noch nicht“ gekommen ist, sondern erst kommt, erst sich nähert). Alles, was wir tun, denken, sagen, ist nur Antwort auf die auf uns zukommenden und unsere „Empfindlichkeit“ und Aufmerksamkeit beanspruchenden nicht‑gegenständlichen, noch-nicht-seienden Herausforderungen.

    15.

    Bisher hat man diese nicht‑gegenständlichen Herausforderungen entweder als von Gott gegebene Gesetze oder als göttliche Willensäußerungen interpretiert, oder man hat sie auf unsere bloße Subjektivität überführt. Beides ist Konstruktion, die dem wirklichen (und wirkenden) Phänomen nicht zu entsprechen imstande ist. Beides beruhte auf Vergegenständlichungen des Nicht-Gegenständlichen. Und so konnte man auch keinen entsprechenden Ort finden für die Wahrheit. Entweder hat man sie als die ewige und sich nie verändernde gedeutet, oder hat man sie als ganz von dem Gegebenen abhängig interpretiert und ihren Ort entweder in der Aussage oder ausschließlich in der Subjektivität gesucht und gefunden. In der griechischen Denktradition gab es keine anderen Möglichkeiten. Nur im hebräischen Denken wurde die Zukunft als alles und besonders auch jeden Sinn und alles Wahre in die Gegenwart hinein bringend enthüllt und gedacht. In das europäische Denken wurde dieser Gedanke durch das Christentum gebracht, jedoch durch alle möglichen hellenisierenden Reinterpretationen verdeckt und unterdrückt. Nur in kritischen Zeiten, in Zeiten „des Verhängnisses und der Hoffnung“ kamen einige überlieferte Stellen der biblischen Schriften zu Wort, die sonst mehr am Rande geblieben oder gar aus der Bewußtheit verdrängt worden sind. Wenn Nietzsche mit der Entdeckung des Nihilismus als des Wesens der europäischen geistigen Wirklichkeit gekommen ist, hatte er – akademisch beurteilt – vollkommen recht in dem Sinne, daß die hohen Werte (und Gott als der höchste Wert) als metaphysische Entitäten einfach nicht mehr haltbar waren und sind. Dieser Aspekt seiner Kritik ist wohl der Wurzel der christlichen Überlieferung entsprungen, die tief – aller Hellenisierung zum Trotz – in der althebräischen, noch vorbegrifflichen Tradition verankert geblieben ist. Problematisch dagegen ist, wenn die sog. Entwertung aller Werte als Proklamation des Rechtes auf beliebig entworfene Lebensorientierung interpretiert wird im Sinne einer Amoralität des Übermenschen oder einer Pseudomoralität eines Plebejers. Das bleibt jedoch wieder nur am Rande unserer heutigen Erwägungen.

    16.

    Ich möchte jetzt unser heutiges Nachdenken mit einer kurz gefaßten Formulierung zu Ende bringen und damit auch eine Brücke zur Diskussion entwerfen: „es gibt“ Wirklichkeiten, die nie vor uns nur als Gegebenheiten, als gegebene Seiendheiten vor‑kommen, die also nicht nur oder gar überhaupt nicht „sind“, und die es umso weniger nur „gibt“, die jedoch eben in ihrer Nicht‑gegebenheit und Noch‑nicht-Seiendheit viel wichtiger und auch wirklicher „sind“ als alles nur Gegebene, alles nur Vorkommende, alles uns nur entgegen Stehende oder uns nur Vorgeworfene. Das heißt erstens, daß es konkrete oder noch deutlicher: konkreszente Wirklichkeiten gibt, deren nichtgegenständliche oder auch „innere“ Seite viel wichtiger ist als die gegenständliche. Das hat echt philosophisch, obwohl nicht ohne daraus folgende übergroße Probleme und Schwierigkeiten, zum ersten Mal ganz präzis Leibniz zum Nachdenken gebracht. Er hat doch erst das Innere als das für die individuelle „Entwicklung“ Entscheidende gedacht. Mit der vollkommenen Unmöglichkeit, durch die Fenster die Welt, wie sie „ist“, nachzuschauen, hat er es jedoch übertrieben. Erst Hegel ist zu der genialen Einsicht gelangt, daß es eine Möglichkeit geben muß, nicht nur das Äußere zu verinnerlichen, sondern auch das Innere zu veräußern. So hat er den Weg geöffnet zu einem philosophischen Verständnis und zu weiteren begrifflichen Analysen des Wesens der Praxis. Nur hat man das alles immer noch auf der Basis und im Rahmen der alten Metaphysik nicht befriedigend genug durchführen können. Philosophisch bahnbrechend scheint mir hier besonders Whitehead gewesen zu sein; seine Auffassung des „Ereignisses“ (event) und seiner in der Zeit ausgedehnten beweglicher, dynamischer Struktur war mindestens für mich persönlich wirklich inspirierend. Nur meine ich, daß man seine Ausführungen auf die Hauptbahn des Gedankenstromes deutscher Denker wie Leibniz und Hegel (aber auch vieler anderen) zurückversetzen muß, und zwar wegen gewisser unentbehrlicher Kontexte, die bei Whitehead und auch noch bei den Prozessualisten zu fehlen scheinen.

    17.

    Als Beispiel einer nicht‑gegenständlichen Wirklichkeit haben wir das Subjekt erwähnt und versprochen, daß wir dazu nochmals zurück kommen werden. Ich habe jedoch schon zu viel Zeit gebraucht und will diese Frage für eventuelle ausführlichere Diskussion lieber offen halten. Jedenfalls gilt uns 1) das Subjekt ex definitione als ein Non-Objekt par excellence. Wir können und müssen sogar 2) auch die Welt nennen, die nie vor uns oder uns entgegen steht, sondern uns „umgreift“, und die wir nie nur als objektiv, nur als uns entgegen‑stehend und so gegenständlich verstehen dürfen. Es ist schon sowieso eine uralte philosophische Frage, was es eigentlich ist, was aus dem bloßen Haufen zufällig zerstreuter Dinge eine schön geordnete Welt (κόσμος) macht. Und unser Hauptziel war, den Gedanken ein bißchen besser einsichtig zu machen, daß die Wahrheit als das, was jedes Wahrsein und jedes wahre Denken und wahres Erkennen erst ermöglicht und auch begründet, kein gegenständlich Seiendes „sein“ und überhaupt nicht „sein“ muß, um doch das Wichtigste nicht nur für all unser wissenschaftliches Bemühen, sondern für unser ganzes privates sowie gesellschaftliches Leben ernste, ja sogar letztentscheidende Bedeutung zu behalten.

    1 Ursprünglich im Wissenschaftskolleg zu Berlin am 6. Mai 1993 als Vortrag gehalten.

    2 Otto Neurath, „Protokollsätze“, in: Erkenntnis 3, 1932/33, Heft 2, S. 204–214, hier S. 206 [Anm. der Red.].